27.09.2014 - 07:00 Uhr
Erfurt. Nach dem Eingeständnis der Thüringer Linken, dass die DDR ein Unrechtsstaat gewesen ist, gibt es eine neue Debatte über den wahren Charakter des SED-Regimes.
Die DDR war ein Unrechtsstaat. Jetzt sagen das also auch die Linken. Bei den Sondierungsgesprächen in Thüringen einigte sich die Partei Bodo Ramelows mit SPD und Grünen auf ein gemeinsames Papier, in dem die DDR als Diktatur und Unrechtsstaat gesehen wird.
Ist damit die Luft raus aus der teils sehr erregt geführten Debatte über den Unrechtscharakter des Arbeiter- und Bauernstaates? Experten sind skeptisch. "Die Diskussion als solche ist nicht neu, abzuwarten bleibt, ob sich die Gesamtpartei der Linken die Thüringer Position zu eigen macht", sagt der Hallenser Historiker und Politikwissenschaftler Everhard Holtmann.
Doch genau da zeichnet sich ein widersprüchliches Bild ab. Während etwa die Linken-Vorsitzende Katja Kipping die Erklärung begrüßt, kann sich der Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Gregor Gysi, nicht mit der Wortwahl anfreunden.
Für Kipping war die DDR ein Unrechtsstaat, "weil durch unfreie Wahlen bereits die strukturelle demokratische Legitimation staatlichen Handelns fehlte; weil jedes Recht und jede Gerechtigkeit in der DDR ein Ende haben konnte, wenn es einer der kleinen oder großen Mächtigen so wollte; weil jedes Recht und Gerechtigkeit für diejenigen verloren waren, die sich nicht systemkonform verhielten." So nachzulesen in einem Interview.
Gregor Gysi findet zwar auch, dass die Genossen in Thüringen Recht haben, wenn sie sich in einer rot-rot-grünen Regierung für alle Thüringer, also auch für die Opfer des DDR-Regimes, verantwortlich fühlen wollen. Den Begriff des "Unrechtsstaates" mag er aber nicht verwenden. Immerhin sei die DDR durch die Nachkriegspolitik in Europa legitimiert gewesen.
Gysi: Gründung der DDR war kein Unrecht
Dem MDR sagte Gysi dazu: "Die Sowjetunion hat 20 Millionen Menschen verloren im Zweiten Weltkrieg gegen Deutschland und war dann eine Besatzungsmacht neben den USA, Großbritannien und Frankreich. Nach dem die Bundesrepublik Deutschland begründet war, konnte man der Sowjetunion doch nicht - auch nicht im Nachhinein - das Recht absprechen, ihren Staat zu gründen. Deshalb ist die Bildung dieses Staates kein Unrecht."
Dass die DDR kein Rechtsstaat war, räumt auch Gysi ein. Anfangs habe es noch vernünftige Ziele gegeben, dann aber sei auch viel Unrecht geschehen.
Damit wogt nun wenige Tage vor dem 25. Jahrestag des Mauerfalls nun erneut eine Debattenwelle über den wahren Charakter der SED-Diktatur durchs Land. Einer, der sie immer wieder antrieb, ist der Potsdamer Historiker Martin Sabrow.
Er glaube nicht, dass mit dem Bekenntnis der Thüringer Linken nun noch einmal substanziell Bewegung in die Debatte über den Unrechtsstaat kommt, sagte Sabrow gestern unserer Zeitung. "Das ist jetzt eine Reizwort-Diskussion, bei der es mehr ums politische Kalkül geht und weniger um wissenschaftlich-fundierte Aufklärung."
Sabrow leitete 2005 eine Expertenkommission der Bundesregierung zur Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit. Weil er neben den repressiven Prägungen der DDR auch deren politische und soziale Bindungskräfte sowie die Möglichkeiten alltäglichen "Nischenglücks" in die Betrachtungen einbezogen wissen wollte, musste er sich gelegentlich schon den Vorwurf gefallen lassen, er zeichne die DDR-Realitäten weich.
Sabrow hielt dagegen: Nur mit einem differenzierten Blick auf die DDR lasse sich erklären, warum eine derart ungeliebte Diktatur so lange und scheinbar so stabil existieren konnte.
Zur neuerlichen Diskussion sagte Sabrow gestern, dass der Begriff des Unrechtsstaates zwar gut sei, um sich abzugrenzen von jeder Form des Nicht-Rechtsstaates. Tatsächlich sei in der DDR massenhaft Unrecht begangen worden. Der Begriff tauge aber weniger zur analytischen Beschreibung der DDR. Denn er beschreibe die Funktionsweise des SED-Regimes allein aus westlicher Perspektive.
"In der DDR existierte zwar kein Recht nach westlichem Muster. Aber es gab und galt eine verbindliches Normengefüge, das sich am Machtanspruch der SED orientierte", so Sabrow. Er spreche deshalb bevorzugt vom Ohnrechtsstaat - mit Verweis auf die Ohnmacht gegenüber dem SED-System.
Justiz diente Ausschaltung Andersdenkender
Auch die Londoner Historikerin Mary Fulbrook fragt sich, wie das SED-Regime so lange überlebte? In der "Thüringer Allgemeine" sprach sie einmal von der "Normalisierung" der DDR-Verhältnisse nach dem Mauerbau. Viele Bürger hätten sich arrangiert und versucht, die real existierende DDR besonders in den späteren Jahren mitzugestalten und zu verbessern.
Wird es künftig schwerer, solche Positionen zu vertreten? Für Wissenschaftler wie den Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat der Freien Universität Berlin, Klaus Schroeder, steht der Unrechtscharakter der DDR seit eh und je außer Frage. "Man darf die Verbrechen der DDR nicht banalisieren. Hunderttausende wurden aus politischen Gründen ins Gefängnis gesteckt. Die DDR war ein Unrechtsstaat. Daran besteht für mich kein Zweifel", sagte Schroeder anlässlich des Erscheinens der Neuausgabe seines Buches "Der SED-Staat" im Gespräch mit unserer Zeitung.
Einen Beleg dafür sieht der Berliner in der politischen Instrumentalisierung der Justiz. Diese sei eingebunden gewesen in den Machtapparat der SED. "Ihre Steuerung zielte auf Auschaltung andersdenkender, Legalisierung von Willkürmaßnahmen der SED und Schaffung einer Erziehungsdiktatur, in der die Menschen auf den richtigen sozialistischen Weg gebracht werden sollten."
Für den Hallenser Everhard Holtmann lässt sich der Unrechtscharakter der DDR an der fehlenden Rechtsstaatlichkeit ermessen. "Ein Rechtsstaat wird durch die Prinzipien der Gewaltenteilung und die Verbürgung von Menschenrechten sowie die Geltung des Legalitätsprinzips konstituiert. Wo eines oder alle diese Kriterien fehlen, haben wir es mit mit einem "Nichtrechtsstaat" zu tun", sagte Holtmann.
Ein Unrechtsstaat sei zudem dadurch gekennzeichnet, dass die Justiz zu politischen Zwecken seitens der politisch Herrschenden eigenmächtig, unkontrolliert und gezielt manipuliert wird. "Eine der letzten diesbezüglichen Praktiken der DDR-Führung war die Anweisung an die Staatsanwaltschaften, Einsprüche von Bürgerinnen und Bürgern gegen die Fälschung der Ergebnisse der Kommunalwahl von 1989 abzuwei- sen", so der Hallenser Politikwissenschaftler weiter.
Erleben privater Freizeit und Gemeinschaft
Ein Streitpunkt bei der Diskussion um den Unrechtsstaat DDR ist die Frage, ob damit nicht die Möglichkeit zu privatem Glück in einer Diktatur unzulässig diskreditiert werde.
Gefragt nach dem, was positiv an der DDR war, antwortete Holtmann: "Dass die DDR "auch ihre guten Seiten" hatte, wird von einer Mehrheit der Ostdeutschen regelmäßig bejaht. Dahinter steckt jedoch nicht eine Ausblendung oder Verharmlosung des diktatorischen Systemcharakters, denn auch die Aussage, dass die DDR eine Diktatur gewesen ist, findet mehrheitliche Zustimmung. Zu vermuten ist, dass mit den "guten Seiten der DDR" die damaligen persönlichen Lebensumstände gemeint sind, soweit diese ein individuell erlebbares Maß an privater Freizeit und Gemeinschaft ermöglichten."
Nach Meinung von Klaus Schroeder hatte die DDR neben guten Schauspielern, Sängern, Sportlern und Wissenschaftlern auch gute Menschen mit sehr viel Idealismus. "Das Potenzial war da, es wurde aber von den Herrschenden missbraucht", so Schroeder im TA-Gespräch.
Wie differenziert die Thüringer Linken letztlich ihre Haltung zum Unrechtsstaat DDR ausarbeiten werden, bleibt abzuwarten. Eines steht für Everhard Holtmann bereits fest: "Hinter diese Aussage kann die Thüringer Linke nunmehr schwerlich zurück - übrigens auch dann nicht, wenn die Koalitionsgespräche scheitern sollten."
Hanno Müller / 27.09.14 / TA
28.09.2014 - 08:39 Uhr
Erfurt. Nach dem Anerkenntnis der DDR als "Unrechtsstaat" durch die Thüringer Linke hat der frühere SPD-Landeschef Gerd Schuchardt "starke Zweifel" angemeldet. Es gehe der SED-Nachfolgepartei nur darum, an die Macht zu gelangen, sagte der Ex-Vizeministerpräsident am Freitag unserer Zeitung.
"Das oberste Ziel ist, erstmals einen Ministerpräsidenten zu stellen. Dem ordnet sich alles unter - auch ein derartiges Papier". Es gebe sicher noch viele Linke-Mitglieder, welche "die DDR wunderbar" fanden.
Linke, SPD und Grüne hatten sich diese Woche bei Sondierungsgesprächen auf einen gemeinsames Papier zur DDR-Vergangenheit geeinigt. In dem Text heißt es unter anderem: "Weil jedes Recht und jede Gerechtigkeit in der DDR ein Ende haben konnte, wenn einer der kleinen oder großen Mächtigen es so wollte, weil jedes Recht und Gerechtigkeit für diejenigen verloren waren, die sich nicht systemkonform verhielten, war die DDR in der Konsequenz ein Unrechtsstaat."
Allerdings hatte Linke-Spitzenkandidat Bodo Ramelow bisher abgelehnt, das Wort "Unrechtsstaat" öffentlich zu gebrauchen. Die DDR sei nach eigener Definition eine Diktatur und kein Rechtsstaat gewesen, in dem es viel Unrecht gegeben habe, lautet seine Standardformulierung. So sagte es auch Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi dem MDR. Er jedenfalls werde den Begriff vom Unrechtsstaat nicht verwenden.
Geschichte dient der politischen Lagerbildung
Vor fünf Jahren hatten sich bei einer ähnlichen Debatte bereits die frühere SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan oder der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière gegen eine solche Kategorisierung ausgesprochen. Im Jahr 2010 war die Sondierungsgespräche zwischen Rot-Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen gescheitert, weil sich die Linke dagegen ausgesprochen hatte, ein gleichlautendes Papier wie jetzt in Thüringen zu unterschreiben.
Nach Meinung des Hallenser Politikwissenschaftlers Everhard Holtmann versuche die Thüringer Linke, mit ihrem Bekenntnis einen Stolperstein aus dem Wege zu räumen, der eine rot-rot-grüne Koalition auf der Landesebene bisher mit blockierte. "Das ist Bestandteil eines politischen Kalküls im Vorfeld möglicher künftiger Koalitionsverhandlungen und als solches auch ernst zu nehmen", sagte Holtmann unserer Zeitung. Hinter diese Aussage könne die Thüringer Linke nunmehr schwerlich zurück - auch dann nicht, wenn die Koalitionsgespräche scheitern sollten.
Der Historiker Martin Sabrow vom Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung rechnet nicht damit, dass diese Debatte zur sachlichen Aufklärung über den Charakter des SED-Regimes beiträgt. "Das ist ein Sturm im Wasserglas und eher ein Vehikel zur politischen Selbstverständigung. Geschichte wird so wieder zum Instrument der politischen Lagerbildung", sagte Sabrow.
Martin Debes und Hanno Müller / 28.09.14 / TA
29.09.2014 - 07:00 Uhr
Die DDR war eine Diktatur, die den Alltag der Bürger erfasste. Die DDR war ein Unrechtsstaat. So steht es in einem Papier, das auf dem Weg zu einer möglichen rot-rot-grünen Landesregierung eine wichtige Station darstellt.
Erfurt/Weimar. "Ein sehr beachtliches Eingeständnis", nennt Professor Hans-Joachim Veen von der Stiftung Etterberg dies. "So schonungslos" habe "bisher kein prominenter Linker gesagt", wes Geistes Kind die DDR war, würdigt er im Interview mit unserer Zeitung vor allem die Rolle von Bodo Ramelow in diesem Zusammenhang. Veen geht aber auch davon aus, dass der Mann, der der erste Ministerpräsident der Linken in Deutschland werden will, damit "nicht die Mehrheitsmeinung der Parteimitglieder und eines Teiles der Linken-Wähler" vertrete. Selbst in der Parteiführung in Berlin und in der Fraktion sei diese Haltung umstritten.
Zumindest in der Thüringer Linken-Fraktion ist Bodo Ramelow aber der unumstößliche Chef. Am Freitag wurde er trotz seiner Ambitionen auf das Ministerpräsidentenamt in Thüringen als Fraktionsvorsitzender der Linken bestätigt. Der 58-Jährige sei mit 100 Prozent der abgegebenen Stimmen gewählt worden, teilte die Fraktion mit. Das Ergebnis sei ein "starkes Signal der Geschlossenheit", erklärte die Parteivorsitzende Susanne Hennig-Wellsow .
Veen spricht davon, dass die heutige Stellung der Linken gerade auch in Thüringen von einer "beträchtlichen Wandlungs- und Adaptionsfähigkeit" zeuge. Dieser Prozess in den vergangenen zwei Jahrzehnten erinnert ihn an die Grünen seit den 1980er Jahren.
Gerlinde Sommer / 29.09.14 / TLZ
29.09.2014 - 08:43 Uhr
Sömmerda. In der Linkspartei in Thüringen wird derzeit heftig über die Bezeichnung "Unrechtsstaat" für die ehemalige DDR gestritten. Auf einer Konferenz der Parteibasis am Wochenende im Sömmerdaer Volkhaus erhitzte das ausgelegte Papier schon vor der offiziellen Eröffnung die Gemüter.
"Das ist eine Sauerei ersten Ranges", zeigte sich etwa Roland Koch aus Sonneberg mehr als erzürnt. Er habe das Papier - das Linke, Grüne und SPD bei ihrem zweiten Sondierungsgespräch verabschiedet hatten - soeben gelesen, sagte Koch. "Ich bin damit überhaupt nicht einverstanden." Er könne einige Argumente nicht nachvollziehen und finde hier ungeschichtliche Formulierungen vor.
"Darüber werden wir noch viel reden müssen", zeigte sich Roland Koch überzeugt und fand Zustimmung bei Südthüringer Mitstreitern. Sie waren gemeinsam nach Sömmerda gekommen, um sich über den Stand der Sondierungsgespräche zu informieren.
"Das ist ein Zugeständnis an die Grünen und SPD", zeigte Axel Walther aus Sömmerda etwas mehr Verständnis für das Papier. Natürlich müsse die Vergangenheit aufgearbeitet werden. Aber bei den Formulierungen in dem Papier gehe es in erster Linie um ein notwendiges Übel. "Wenn wir nur so einen Politikwechsel in Thüringen erreichen können, müssen wir das akzeptieren", so Walther. SPD und Grüne hättsen sich in dieser Frage deutlich festgelegt.
Mit Abstand reagiert die junge Generation auf die Debatten um das Unrechtsstaatspapier. Er sei ein Kind der Bundesrepublik und kenne die DDR nur aus den Erzählungen von Familienangehörigen, sagte der 23-jährige Christian Schaft aus Erfurt. Diskussionen seien normal und er könne die Aufregung einiger älterer Linker verstehen, halte den Streit aber für überzogen.
Unterdessen mahnte die Landesvorsitzende der Linkspartei, Susanne Hennig-Wellsow , mehr Kompromissbereitschaft in den eigenen Reihen an. Es gebe in den Sondierungsgesprächen mit den Sozialdemokraten und den Grünen deutliche Fortschritte. So sei man sich in vielen Fragen der Bildungs- und der Sozialpolitik bereits weitgehend einig geworden.
Die Chance für einen Politikwechsel in Thüringen sei noch nie so groß gewesen wie gegenwärtig. Es sei nun auch eine Frage der Kompromissbereitschaft, diese sich bietende Chance zu ergreifen. Die Tür sei bereits einen Spalt breit geöffnet, nun müsse man hindurchgehen, so Hennig-Wellsow.
"Können wir die DDR nicht langsam einmal abhaken", entfuhr es einer Frau aus Sömmerda, die ihren Namen nicht veröffentlicht sehen wollte. Sie sei dafür, unter dieses Kapitel einen Schlussstrich zu ziehen.
Bernd Jentsch / 29.09.14 / TA
29.09.2014 - 09:00 Uhr
Die Linke hat sich lange gewunden: Das Wort "Unrechtsstaat" kam ihren Vertretern nicht über die Lippen. Jetzt aber ist vieles anders: Bodo Ramelow will Ministerpräsident von Thüringen werden.
Erfurt/Weimar. In einer gemeinsamen Erklärung von Linken, SPD und Bündnis 90/Die Grünen zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte steht nun, dass "die DDR in der Konsequenz ein Unrechtsstaat" war. Daraus erwachse besondere Verantwortung. Unsere Zeitung sprach mit Professor Hans-Joachim Veen (Jahrgang 1944), seit 2002 Gründungsvorsitzender der in Weimar ansässigen und mit Diktaturforschung beschäftigten Stiftung Ettersberg, über die Bewertung dieses Papiers mit Blick auf eine mögliche rot-rot-grüne Regierung, den Wandel der Linken und die offenen Fragen mit Blick auf deren SED-Vergangenheit.
Herr Veen, wie bewerten Sie dieses rot-rot-grüne Positionspapier?
Es ist ein sehr beachtliches Eingeständnis des Diktaturcharakters der DDR. So schonungslos hat das bisher noch kein prominenter Linker gesagt. Bodo Ramelows Meinung finde ich respektabel. Aber gleichzeitig bin ich mir ziemlich sicher, dass das nicht der Mehrheitsmeinung der Parteimitglieder der Linken und eines Teiles ihrer Wähler entspricht. Es gibt im "Neuen Deutschland" bereits wütende Kommentare dazu. Da wird von Delegitimierung der DDR gesprochen.
In diesem Text heißt es, dass die DDR ein Unrechtsstaat war...
Ja, richtig, aber die Begründung ist nicht überzeugend. Die DDR war nicht in der Konsequenz ein Unrechtsstaat, weil es keine freien Wahlen gab und die Partei überall eingreifen konnte. Nein, sie war vielmehr ein Unrechtsstaat aus der Struktur ihrer Verfassung heraus. Die Verfassung selber kannte keine individuellen Grundrechte, keine Gewaltenteilung, keine unabhängige Justiz, sondern sie wollte die Parteijustiz. Es war eine Partei-Diktatur.
Dass die DDR eine Diktatur war, steht in den Papier von Rot-Rot-Grün. Stellt Sie das zufrieden?
Nun, man muss sehen: Die Rolle der Partei, die laut Verfassung immer Recht hatte und als Führer der Arbeiterklasse in Paragraf 1 der DDR-Verfassung genannt wurde, bleibt in den Ausführungen merkwürdig im Hintergrund - als sei sie nicht die Mutter alles Bösen dieser Diktatur gewesen. Dabei war die SED die Herrscherin in der DDR. Es wird auf die Stasi verwiesen, auch darauf, dass man mit Stasi-Leuten nichts zu tun haben will, aber nirgendwo steht, dass ehemalige Parteifunktionäre der SED auch keine Rolle mehr spielen dürfen. Ich finde aber auch vieles sehr gut in dem Papier...
Zum Beispiel?
... den Hinweis auf Heimkinder. Es ist gut und treffend, dass man sich dem bisher weitgehend unausgeleuchteten Opfer-Kapitel etwa in den Jugendwerkhöfen widmen möchte, in denen den Insassen schweres Leid zugefügt wurde. Förderung der Institutionen zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur, Unterstützung der dezentralen Aufarbeitungsstruktur - all das ist positiv. Man wird schauen müssen, was das in der Praxis bringt. Man kann aber von so einem Papier auch nur die Benennung des Wesentlichen erwarten - und das ist genannt.
Wie wichtig ist diese Vereinbarung von Linken, SPD und Bündnis-Grünen auf dem Weg zu einer möglichen rot-rot-grünen Regierung?
Im Grunde ist das eine Sollbruchstelle für eine rot-rot-grüne Koalition. Und ich glaube, dass die Linke alles dafür getan hat, um hier SPD und Bündnis 90/Die Grünen entgegenzukommen. Ich glaube, dass Ramelow viel weiter gegangen ist als seine eigene Parteiführung in Berlin und vor allem auch die Masse der Parteimitglieder.
Heißt das: Er muss also erst noch um die Zustimmung an seiner eigenen Basis werben?
Ja, das muss er. Allerdings zeigt sich in dem Papier ja das alte Muster, das schon nach 1989 von der Partei durchgesetzt wurde: Es wurde auf die Stasi verwiesen, um die SED und ihre Nachfolger selber aus der Schusslinie zu nehmen.
Es ist auch die Rede von der Aufarbeitung der Alltagsdiktatur in der DDR. Was heißt das?
Das ist etwas missdeutig formuliert. Gemeint ist wohl Diktatur im Alltag. Denn tatsächlich hat die Diktatur den Alltag der Menschen erfasst. Das ist deshalb interessant, weil es mittlerweile eine gewisse Neigung gibt, den Einfluss der Diktatur auf das tägliche Leben kleinzureden. Natürlich haben die Menschen in der DDR geliebt, gelebt und waren glücklich, aber dennoch war auch immer ihr Alltag von der Diktatur mitbestimmt.
Vor 24 Jahren dachten viele - gerade auch aus dem Westen -, dass die SED-Nachfolgerin PDS schnell weg sein würde vom Fenster...
Das war die große Illusion, zu glauben, die Diktatur habe sich automatisch erledigt. Wenn man es anders vermutet hätte, hätte man wahrscheinlich die Frage eines Parteiverbots viel früher gestellt. Mit der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl 1990 war das Thema durch...
Und nun könnte Thüringen mit Bodo Ramelow den ersten Ministerpräsidenten der Linken stellen. Was sagt das über die Entwicklung gerade auch hierzulande aus?
Es ist unübersehbar, dass die Linke in den neuen Ländern als Volkspartei zu bezeichnen ist - und zwar eher als die SPD. Die einzig bundesrepublikanische Volkspartei ist die Union. Die Stellung der Linken heute zeugt von einer beträchtlichen Wandlungs- und Adaptionsfähigkeit, auch der Demokratie in Deutschland.
Das hat sich schon bei den Grünen gezeigt, die 1983 als Antiparteienpartei, Antiregimepartei und Antisystempartei in den Bundestag einzogen und mittlerweile längst voll integriert sind in die Verfassungsordnung. Dieser Prozess ist bei der Linken noch nicht abgeschlossen, da es in der Linken noch extremistische Sektierer gibt, die sich aber wahrscheinlich über kurz oder lang auswachsen werden. Das Beispiel Thüringen und insbesondere das Beispiel Ramelow legt jedenfalls nahe, dass diese Adaptionsfähigkeit der bundesrepublikanischen Demokratie groß ist.
Dokumentiert: Den Opfern zuwenden
Unter der Überschrift "Die Würde des Menschen ist unantastbar" heißt es in dem rot-rot-grünen Papier "Zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte" unter anderem:
"25 Jahre nach der friedlichen Revolution ist für Bündnis 90/Die Grünen und die SPD als Parteien, die in und aus der Bürgerrechtsbewegung der DDR hervorgegangen sind, ebenso wie für die Partei Die Linke die Aufarbeitung der SED-Diktatur in all ihren Facetten weder überflüssig noch rückwärtsgewandt. Dabei geht es um eine demokratische Kultur von morgen. Für eine Aufarbeitung in die Gesellschaft hinein ist es von Bedeutung festzuhalten: die DDR war eine Diktatur, kein Rechtsstaat. Weil durch unfreie Wahlen bereits die strukturelle demokratische Legitimation staatlichen Handelns fehlte, weil jedes Recht und jede Gerechtigkeit in der DDR ein Ende haben konnte, wenn einer der kleinen oder großen Mächtigen es so wollte, weil jedes Recht und Gerechtigkeit für diejenigen verloren waren, die sich nicht systemkonform verhielten, war die DDR in der Konsequenz ein Unrechtsstaat. Daraus erwächst besondere Verantwortung. (...)
Wir verständigen uns darauf, nicht mit Organisationen, die das DDR-Unrecht relativieren, zusammenzuarbeiten. Die Parteien werden keine Personen, die direkt oder indirekt mit dem Sicherheitssystem der DDR zusammengearbeitet haben, in Positionen dieser Regierung entsenden. Ebenso sollen Menschen, die leugnen, dass die DDR kein Rechtsstaat war, keine Verantwortung in der gemeinsamen politischen Arbeit für Thüringen wahrnehmen. Mit allen, die in der DDR Schuld auf sich geladen haben, diese Schuld aber eingestehen, bekennen und ihren Beitrag zur Aufarbeitung leisten wollen, werden wir zusammenarbeiten.
Vor diesem Hintergrund verständigen sich die Parteien auf verschiedene konkrete Projekte, die sich den Opfern zuwenden wollen:
+ bei der Unterstützung von Heimkindern, denen schweres Leid und Unrecht widerfahren ist, möchten die Parteien einen großen Schritt vorankommen
+ Förderung von Institutionen der wissenschaftlichen Aufarbeitung der SED-Diktatur an Hochschulen und Forschungseinrichtungen
+ Unterstützung der dezentralen Aufarbeitungsstruktur
+ Finanzielle Besserstellung von Beratungsstrukturen für SED-Opfer
+ Bauliche Ertüchtigung der Thüringer Opferstätten (z.B. Freigangzellen UHA Suhl)."
Gerlinde Sommer / 29.09.14 / TLZ
<time datetime="2014-09-29 15:46:00 MESZ">29.09.2014 - 15:46 Uhr</time>
Trotz Kritik aus der eigenen Partei an der Bezeichnung der DDR als "Unrechtsstaat" hält die Thüringer Linke-Landesvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow an der gemeinsamen Erklärung mit SPD und Grünen fest.
"Was vereinbart ist, gilt", sagte sie der "Thüringer Allgemeinen". "Rot-Rot-Grün wird sich der Aufarbeitung des DDR-Unrechts stellen, ohne irgendeine DDR-Biografie zu entwerten." Die Debatte in der Partei sei zwar "gut und wichtig": "Aber am Grundsatz gibt es kein Wackeln."
Gleichzeitig betonte Hennig-Wellsow, dass sich alle Thüringer Parteien ihrer Geschichte stellen müssten. "Ohne das Sehen und die Übernahme von Verantwortung für vergangenes Unrecht, wird das heutige Unrecht nicht wirkungsvoll bekämpft werden." Die Aufarbeitung der NSU-Verbrechen und die Rolle der Behörden sei nur vor diesem Hintergrund möglich.
Am Samstag war auf einem Basistreffen der Linken in Sömmerda harte Kritik an der Erklärung zur DDR-Vergangenheit geübt worden, welche die Linke-Verhandlungsdelegation auf einem Sondierungstreffen mit SPD und Grünen abgesegnet hatten. Darin heißt es unter anderem: "Weil jedes Recht und jede Gerechtigkeit in der DDR ein Ende haben konnte, wenn einer der kleinen oder großen Mächtigen es so wollte, weil jedes Recht und Gerechtigkeit für diejenigen verloren waren, die sich nicht systemkonform verhielten, war die DDR in der Konsequenz ein Unrechtsstaat."
Den Begriff des Unrechtsstaats hatte die Linke bisher stets als zu pauschal abgelehnt. Die Landtagsabgeordnete Ina Leukefeld sprach am Montag von einem "Kampfbegriff", den sie ablehne. Auch Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi hatte bereits erklärt, dass er diese Bezeichnung nicht gebrauche.
Martin Debes / 29.09.14 / TA
Der komplette Text unter: http://www.gesellschaft-zeitgeschichte.de/dokumente/aktuelle-dokumente/aufarbeitung-der-sed-diktatur-protokollanhang-der-sondierungsgespraeche-die-linke-spd-buendnis90gruene-2014/
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Weitere Links:
Linke tut sich schwer mit dem 'Unrechtsstaat' DDR
Umfrage: Ostdeutsche hegen keine Vorbehalte gegen einen linken Ministerpräsidenten