Versöhnung - 25 Jahre Friedliche Revolution

Landesbischöfin Ilse Junkermann

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Verantwortliche in den Gemeinden!

25 Jahre danach schreiben wir einen Brief an die Gemeinden der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Dankbar denken wir an den Herbst ’89. Besonders danken wir all den vielen Mutigen, die diesen Herbst herbeigeführt haben. Und wir denken zugleich auch an diejenigen, denen diese Befreiungsgeschichte nicht neue Wege eröffnet hat.

Der Wunsch nach Versöhnung, das "große Fernziel Versöhnung" (Roland Jahn) ist nicht verstummt - aber die Frage nach der Schuld und die sozialen und gesundheitlichen Folgen von in der DDR geschehenem Unrecht spüren viele der Betroffenen und ebenso ihre Angehörigen. Die Enttäuschungen derer, die Unrecht erlitten haben, sind häufig so stark, dass sie sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben - und nicht wenige von ihnen sind von Altersarmut bedroht. Hingegen leben viele der früher politisch Verantwortlichen materiell gesichert, und nur wenige von ihnen sind bereit, sich den Folgen ihres Tuns zu stellen. In unserer Gesellschaft hat sich eine Spirale von Schuldlosigkeit entwickelt - und von Gnadenlosigkeit.

Was können die Kirchengemeinden tun? Sie können ihren Seelsorgeauftrag, ihren Bildungs- und Öffentlichkeitsauftrag und ihren Verkündigungsauftrag wahrnehmen! Diese Aufträge haben wir uns nicht selbst gesucht, so wie wir nicht vor allem für uns selbst da sind; was dies jetzt, 25 Jahre danach, bedeutet, haben wir in einem "Brief an die Gemeinden" aufgeschrieben. Darin bitten wir die Gemeinden: Öffnet Eure Räume, Räume zum Gespräch und Räume zum Gebet!

In unserer Kirche wird oft von Sünde gesprochen - häufiger als von der Last, die die Betroffenen tragen müssen. Eine der Lasten ist: Ihnen fehlt häufig die gesellschaftliche Anerkennung.

Die Schuld bleibt. Selbst durch Versuche der Wiedergutmachung können die Folgen von Unrecht nur sehr begrenzt ausgeglichen werden. Und wo jemand, der oder die betroffen war, bereit ist zu vergeben, gilt dennoch: Vergebung entschuldigt nicht. Und ebenso gilt: Vergebung kann nicht verordnet werden! Sie braucht lange Zeit, in manchen Fällen gelingt sie nicht. Aber die Betroffenen, die früher politisch Verfolgten, sie können von ihrer Fixierung auf die Täter frei werden; dafür gibt es Beratung, therapeutische Angebote, geistliche Begleitung sowie besonders darauf orientierte Möglichkeiten der Seelsorge! Und wo vergeben wird, können die Täter sich den Folgen ihrer Taten stellen. Dann wird auch Versöhnung möglich.

Die Kirchenleitung bittet die Gemeinden, stärker als bisher ihre Räume für Gespräche mit Menschen über ihre Geschichte und für Gebete zu öffnen. Um solche Formen der politischen Diakonie - einem Dienst der christlichen Gemeinde für die Gesellschaft - möglich zu machen, halten wir Unterstützung bereit: Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die Seelsorge und geistliche Begleitung von politisch Verfolgten der DDR anbieten; ein "Gebet für Versöhnung"; weitere Arbeitsmaterialien zum Gespräch in Gemeinden, zu dem Menschen eingeladen werden sollen, deren Erinnerungen an die DDR und deren weltanschauliche Überzeugungen verschieden sind, die aber der Wunsch nach Heilung der gestörten gesellschaftlichen
Beziehungen verbindet, nach der befreienden Erfahrung von Versöhnung!

Bitte lassen Sie sich von den bereitgestellten Materialien anregen! Nehmen Sie das auf, was in Ihrer Gemeinde möglich und geboten ist! Gottes Geist der Freiheit und der Wahrheit leite und stärke Sie!

Für den Landeskirchenrat grüßt Sie in geschwisterlicher Verbundenheit

Ihre Landesbischöfin der
Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland
Ilse Junkermann

 

In der Wittenberger Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e. V. veranstalten Pfarrer Curt Stauss, Beauftragter des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für Seelsorge und Beratung von Opfern der SED-Kirchenpolitik, und Studienleiter PD Dr. Alf Christophersen am 24. September 2014 einen Studientag zu dem oben stehenden "Versöhnungs-Brief an die Gemeinden".

Landesbischöfin Ilse Junkermann und der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen haben gleichermaßen das "große Fernziel" Versöhnung - nicht selten gegen erheblichen Widerstand - in Erinnerung gerufen. Aber was heißt das praktisch angesichts von früher politisch Verantwortlichen, die die Folgen ihrer Taten und die Leiden der Betroffenen leugnen, und ebenso angesichts einer jungen Generation, die so gegensätzlichen DDR-Erinnerungen begegnet, dass sie von verschiedenen Ländern zu hören meint? Neben Beiträgen der beiden Einladenden werden ein Hauptvortrag und ein Workshop dem Studientag Impulse zur kritischen Debatte liefern.

 

Das große Fernziel Versöhnung

Curt Stauss
Johannes Beleites

EKM intern 10/2014

DIALOG

Zum Jubiläum 25 Jahre Friedliche Revolution hat die Kirchenleitung einen „Versöhnungs-Brief an die Gemeinden“ veröffentlicht. Im Gespräch dazu: Curt Stauss und Johannes Beleites.

Pfarrer Curt Stauss ist Beauftragter des Rates der EKD für Seelsorge und Beratung von Opfern der SED-Kirchenpolitik.

Johannes Beleites hat als Studienleiter der Evangelischen Akademie Thüringen mit Jugendlichen zahlreiche Projektwochen zur DDR-Geschichte durchgeführt.

Das Interview führte Susanne Sobko.

Das Thema ist heftig umstritten. Trotzdem wagen Sie sich daran?

Beleites:

Warum trotzdem – deswegen!

Weil es ein wichtiges und immer offen bleibendes Thema ist. So was wie ein Horizont, den wir nie erreichen werden, aber der das Ziel bleiben muss. Wir sollten uns auf den Weg begeben.

Stauss:

Ich finde das Thema zentral, und zwar theologisch, seelsorgerlich und politisch – ich sehe gar keine andere Möglichkeit, als damit umzugehen. Wobei ich es oft anders nenne als Versöhnung, zum Beispiel Heilung der gestörten gesellschaftlichen Beziehungen, mit der Wut der Betroffenen umgehen, Vergebungsarbeit. Wir tun uns nichts Gutes, wenn wir auf die Hoffnung auf Versöhnung verzichten.

Versöhnung gilt als „großes Fernziel“ – warum tun sich die Menschen so schwer damit?

Beleites:

Da hat jeder seinen Grund, es gibt nichts Generelles. Das größte Hemmnis ist, dass man mehr übereinander als miteinander spricht, und auch mehr spricht als zuhört. Das ist menschlich – die meisten haben mehr Interesse, ihre Geschichte darzustellen als die anderer zu hören. Zudem kennen sich Opfer- und Tätergruppen meist nicht persönlich, und kamen auch früher kaum in direkten Kontakt. Deshalb gibt es krude Vorstellungen voneinander, die die Gräben vertiefen. Beide Seiten haben sich in ihrer Welt und mit ihrer Wahrheit eingerichtet.

Stauss:

Ich zitiere gern den Satz eines Theologen aus dem 19. Jahrhundert: „Wer die Versöhnung fordert, ist ein Ochs; wer nicht an sie glaubt, ist ein Esel!“. Ich sehe zwei Gründe, warum wir uns so schwer tun. Erstens sind die meisten Verantwortlichen abgetaucht, oder sie leben nicht mehr, so dass ein Gegenüber für die Auseinandersetzung fehlt. Zweitens müssen viele Opfer mit Verletzungen und gebrochenen Biografien leben, manche sind traumatisiert. Dadurch wird Versöhnungsarbeit besonders schwer, denn dazu gehört die Frage nach eigenen Anteilen. Wir dürfen nicht vergessen, dass die DDR nicht nur durch das Unrecht von oben funktioniert hat, sondern auch, weil 98 Prozent der Menschen zur Wahl gegangen sind oder beim Fahnenappell still standen. Es tut weh, da hinzuschauen.

Im Brief werden Gemeinden gebeten, ihre Räume zum Gespräch und Gebet zu öffnen. Haben Sie Vorschläge?

Beleites:

Ich würde an konkrete Situationen anknüpfen, also bei Konflikten Räume anbieten. Allgemeingültige Lösungen gibt es nicht. Wichtig ist es, offen für Streit und Diskussion zu sein, denn ohne Konflikte gibt es keine Versöhnung. Auch die Kirche muss ihre Rolle reflektieren die damalige und heutige. Beispielsweise sollten bei der Verpachtung der Landflächen bäuerliche Familienbetriebe stärker beachtet werden als die durch Zwangskollektivierung entstandenen Strukturen.

Stauss:

Mit unseren Kirchen haben wir ein unglaubliches Netzwerk an wunderbaren Räumen für Kommunikation und Stille – ein Schatz, der unserer Gesellschaft zu wenig zur Verfügung steht. Anlässe wie das aktuelle Gedenkjahr rücken uns ins Bewusstsein, was an Fragen offen ist, und wir sollten zum Gespräch darüber einladen.

Kann nachgeholt werden, was 25 Jahre versäumt wurde?

Beleites:

Man kann Zeit nicht ungeschehen machen. Aber für alle gibt es bei einem fruchtbaren Gespräch ein Lernerlebnis: Man weiß über den Anderen und seine Beweggründe mehr als vorher, und im günstigsten Fall versteht man einander besser. Dadurch können wir auch über die Gefahr reflektieren, dass wir uns heute in Rollen und Ämtern oft ähnlich verhalten wie jene, die in der Diktatur an entsprechender Stelle waren.

Stauss:

Folgen von Diktaturen werden oft erst nach Jahrzehnten aufgearbeitet, denn viele Menschen können früher nicht nach hinten schauen. Verwandlungsund Heilungsprozesse brauchen Zeit, ebenso wie das Aussprechen der Wahrheit und das Zuhören. Zudem gibt es jetzt die Chance, dass sich die nächsten Generationen der Täter und Opfer begegnen. Sie tragen auch Spuren, wie Erfahrungen der Kinder von Stasi-Verantwortlichen und von Engagierten beweisen.

Im Brief ist von Schuldlosigkeit und Gnadenlosigkeit die Rede. Worin sehen Sie Kennzeichen dafür?

Stauss:

Dass Menschen, die politische Verantwortung trugen, nicht bereit sind, sich dem zu stellen, wie beispielsweise dreist auftretende Stasi-Offiziere zeigen. Und wenn es ein früherer Verantwortlicher wagt, öffentlich zu seinen Aktivitäten zu stehen, muss er befürchten, dass man über ihn herfällt. Es muss möglich sein, das, was falsch war, zu benennen, und es hören zu wollen, ohne gleich zu verurteilen.

Was brauchen die Opfer Ihrer Meinung nach?

Beleites:

Zuwendung, Anerkennung, Aufmerksamkeit. Es wird ein Problem, dassLeute, die wegen ihres oppositionellen Engagements zu DDR-Zeiten berufliche Nachteile hatten, potentiell in Altersarmut fallen. Ihnen, ihren Kindern und Enkeln wird vermittelt, dass sich Engagement für Demokratie und Menschenrechte nicht lohnt und man sich besser anpasst. Es ist die Aufgabe eines freiheitlichen Gemeinwesens, dem entgegenzuwirken.

Stauss:

Gesellschaftliche Anerkennung und das Wissen, da ist Unrecht geschehen – es war also nicht nur ein biografisches Missgeschick, sondern Staatskriminalität. Entschädigungen sind materiell nicht zureichend, aber auch eine Anerkennung. Sie brauchen außerdem den Abschied aus der Opferrolle, was oft das Schwierigste ist. Wir müssen alles dafür tun, damit sie aufatmen können, also auch Seelsorge, Rechtsberatung und psychosoziale Hilfe anbieten.

Was raten sie zum Umgang mit Tätern, die das Unrecht leugnen oder schönreden?

Beleites:

Auch Aufmerksamkeit und Anerkennung - dass man sie als Menschen sieht und hinterfragt, warum sie so geworden sind. Die Leute haben sich eingerichtet in ihrer Welt, teilweise sind sie geprägt von Verbitterung und dem Gefühl, dass ihnen Unrecht widerfährt durch die heutige Geschichtsbetrachtung. Vielleicht erreicht man sie durch Offenheit, aber man kann nicht alle Prägungen rückgängig machen. Das offenste Gespräch hatte ich mit einem Täter, als dessen Tod absehbar war. Als er merkte, dass ich ihn als Mensch ernstgenommen habe, kam in ihm viel in Bewegung und er hat manches revidiert. Aber wir haben selten die Möglichkeit und den Mut für so ein Gespräch.

Stauss:

Es gibt Menschen, die Mut und Kraft aufgebracht haben, ihre früheren Vernehmer zu erreichen – das sind Hoffnungsgeschichten, die zeigen, es geht auch anders. Der Idealfall ist es, die Betroffenen offen anzusprechen, aber in der größeren Zahl wird Vergebungsarbeit nur möglich, wenn sie die Opfer allein leisten. Sie wurden entwertet und übernahmen diese Entwertung, schämen sich, fühlen sich schuldig. Mit innerer Arbeit muss die Entwertung überwunden werden, damit sie das Leben nicht weiter vergiftet. Das geht ohne Gegenüber. Außerdem dürfen die Betroffenen nicht allein dastehen, sondern das Unrecht muss öffentlich anerkannt werden.

Wie soll Jugendlichen die Vergangenheit erklärt werden, wenn sich schon die Zeitzeugen schwer damit tun?

Beleites:

Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, ihnen etwas Fertiges vorsetzen und zu erklären, sondern die Vergangenheit sollte gemeinsam erkundet werden. Man muss zusammen nach Antworten suchen und mit viel Zeit, Neugier, Phantasie und ohne „erwünschte Antworten“ offen sein für Erkenntnisse.

Stauss:

Die Wahrheit muss hörbar gemacht werden. Es ist wunderbar, zu erleben, wie Enkel heute fragen und die Alten ihre Geschichten erzählen. Die Jugendlichen hören offener zu als damalige Zeitgenossen und die Zwischengeneration. Es gibt für die Jugendarbeit sehr gute Materialien.

Was ist ein realistisches Ziel der Versöhnungsdebatte?

Beleites:

Sie aufrecht zu erhalten.

Stauss:

Dass das Thema nicht versinkt. Es gehört zur gesellschaftlichen Verantwortung, damit umzugehen, und deshalb finde ich es wichtig, wenn Frau Junkermann oder Herr Jahn daran erinnern – auch wenn das eine undankbare Aufgabe ist. Viel mehr können wir uns nicht vornehmen, weil das Thema mit so viel Schmerzen verbunden ist.

Und wie sieht Ihre idealistische Vision aus?

Beleites:

Ein Abschluss ist weder absehbar noch zu wünschen. Zudem wissen wir christlich geprägten Menschen, dass die Heilserwartung mitunter produktiver ist als das Heil selbst.

Stauss:

Dass wir miteinander gesprächsfähig sind und zuhören und neugierig bleiben.

Kontakt - Materialien

Curt Stauss, <curt.stauss@t-online.de>
Johannes Beleites, <johannes.beleites@gmx.de>

Download:   www.ekmd.de – Themenfelder – Versöhnung - Materialien

  • "25 Jahre danach - zu einem Versöhnungsdialog beitragen, Gesprächsräume öffnen" - Brief an die Gemeinden (PDF, 70 KB)
  • "Die Kirche und ihre Schuld: Bußfragen und Aufgaben" - Bußfragen und Aufgaben (PDF, 61 KB)
  • Vorschlag mit ausformulierten Texten für ein Gebet/einen Gottesdienst - Texte (PDF, 43 KB); Texte Word, 89 KB)
  • Programmflyer zum Studientag am 24. 9. 2014 - Flyer (PDF, 296 KB)