Was Deutschlands innere Einheit ausmacht

 Der Politologe Prof. Dr. Hans-Joachim Veen in der Kleinen Synagoge in Erfurt. Foto: Marco Kneise
Der Politologe Prof. Dr. Hans-Joachim Veen in der Kleinen Synagoge in Erfurt.
Foto: Marco Kneise

Gastkommentar: "Aufarbeitung" - eine Frage der Vergangenheit oder der Zukunft? Hans-Joachim Veen hielt in der Gedenkstätte im Torhaus einen Vortrag über die Aufarbeitung der Diktatur, der hier verkürzt veröffentlicht wird.

Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit eigentlich?

Wir verwenden den Begriff selbstverständlich, doch habe ich Zweifel, dass wir auch alle etwa dasselbe darunter verstehen. Gibt man in die freie Online-Enzyklopädie Wikipedia den Begriff "Aufarbeitung der Vergangenheit" ein, wird man auf den Begriff "Vergangenheitsbewältigung" verwiesen.

Als Vergangenheitsbewältigung wurde in der (alten) Bundesrepublik die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus, seinen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, dem Völkermord an den Juden, der Gewaltherrschaft und dem Terror gegen die Bevölkerung, bezeichnet. Die "Vergangenheitsbewältigung" ist inzwischen zu Unrecht in Misskredit geraten, weil sie im Nachhinein leicht missverstanden wird als der Versuch, etwas abschließend abzuarbeiten.

Doch darum ging es in der frühen Auseinandersetzung mit der NS-Diktatur durch Philosophen und Publizisten wie Karl Jaspers, Theodor Adorno und Eugen Kogon oder durch Politiker wie Theodor Heuss - dem ersten Bundespräsidenten - nicht.

Gerade Heuss verwendete den Begriff der "Vergangenheitsbewältigung" in vielen seiner Reden, um die Deutschen daran zu erinnern, dass sie sich selbstkritisch mit der NS-Vergangenheit und ihrer eigenen Rolle dabei auseinanderzusetzen hätten und dass dieser Prozess fortdauern müsse.

Die Frage der Schuld stand am Anfang

Karl Jaspers hat bereits 1946 ein Buch über die Schuld der Deutschen am Zweiten Weltkrieg und am Holocaust unter dem Titel "Die Schuldfrage. Für Völkermord gibt es keine Verjährung." publiziert. Der Schock über die NS-Verbrechen stand nach 1945 am Anfang einer langen Auseinandersetzung, die von Kollektivschuldvorwürfen der Alliierten gegen die Deutschen bestimmt war. Die Frage der Schuld, aber auch der Mitschuld aller Deutschen, prägte die Auseinandersetzung der frühen Jahre. Karl Jaspers, der von den Nazis 1937 als Hochschullehrer zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden war, lehrte nach 1945 in Heidelberg, später in Basel. Er verlangte als Konsequenz dieser Schuld die Bestrafung der Täter, Wiedergutmachung und die Einsicht vieler in die eigene Mitschuld.

Ein Jahr nach dem Erscheinen von Karl Jaspers Thesen wies der linksliberale Publizist Eugen Kogon, ein Gegner der Nazis, der von ihnen verfolgt worden war und nach dem Krieg in Darmstadt lehrte, den Vorwurf der Kollektivschuld aller Deutschen zurück. In seinem Aufsatz von 1947 "Das Recht auf den politischen Irrtum" lenkte er den Blick primär auf die politisch Verantwortlichen, die NS-Herrschaftselite. Er setzte sich für eine differenzierte Entnazifizierung je nach der Rolle ein, die der Betreffende gespielt hatte. Die Täter müssten bestraft, den Opfern müsse Wiedergutmachung zuteil werden.

Ehemalige Nationalsozialisten sollten erst nach langer Bewährung wieder Führungsfunktionen in Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft übernehmen dürfen. Doch war dies für Kogon nur der erste Schritt bei der Vergangenheitsbewältigung. Der zweite Schritt war für ihn schon damals das Bemühen, die Deutschen nach der totalitären Diktatur für die Demokratie zu gewinnen und zwar durch Aufklärung und Erziehung.

Über die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen kam es in den 1950er-Jahren in der Bundesrepublik zu scharfen Kontroversen, in der unter anderem der bedeutende Frankfurter Sozialphilosoph Theodor Adorno, der in der NS-Zeit in die USA emigriert war, 1963 beklagte, "dass der Faschismus nachlebt, dass die viel zitierte Aufarbeitung der Vergangenheit bis heute nicht gelang und zu ihrem Zerrbild, dem leeren und kalten Vergessen, ausartete". Der Titel seines Aufsatzes lautete "Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?" Adorno bettete seinen Vorwurf in den Zusammenhang seiner in den späten 40er-Jahren in den USA entwickelten sozialpsychologischen Theorie über die sogenannte "autoritäre Persönlichkeit" ein, die er den Deutschen weithin attestierte.

Was kennzeichnet eine autoritäre Persönlichkeit nach Adorno? Sie hat, in aller Verkürzung, einerseits eine Ich-Schwäche, ist unsicher, wenig selbstbewusst und neigt deshalb andererseits dazu, sich mit großen Kollektiven zu identifizieren. Autoritäre Charaktere sind zutiefst obrigkeitsstaatlich und hierarchisch geprägt.

Sie fügten sich in die "Volksgemeinschaft" des NS-Staates ebenso ein wie in das "Kollektiv" und die Vorstellung eines sozialistischen neuen Menschen in der DDR. Auch der DDR-Sozialismus hat sich die in Deutschland vorherrschenden obrigkeitsstaatlichen Mentalitäten zunutze gemacht und den tradierten Untertanengeist mit Ideologie und Terror, mit Repression und der Verfolgung Andersdenkender, gründlich konserviert.

Im Westen war Adorno skeptisch, was die junge Demokratie der Bundesrepublik anging. Er empfahl den Deutschen aufgrund seiner sozialpsychologischen Diagnose eine "demokratische Pädagogik". Dabei sollte es nicht nur gegen das "Vergessen" gehen, sondern um eine Veränderung der Verhaltensweisen und des Selbstgefühls, um ihre Entwicklung zu selbstbestimmten Bürgern zu befördern. Joachim Gauck spricht 50 Jahre später in seinem Büchlein "Freiheit. Ein Plädoyer" in diesem Sinne von der Ermächtigung der Menschen zur Freiheit und Verantwortung nach der zweiten deutschen Diktatur.

Antifaschismus avancierte zum Gründungsmythos

In der SBZ spielten nach 1945 Vergangenheitsbewältigung oder Aufarbeitung des Regimes im öffentlichen Sprachgebrauch nie eine Rolle. Denn der "Faschismus", wie der Nationalsozialismus von den Kommunisten unpräzise bezeichnet wurde, galt spätestens seit Februar 1948, dem Abschluss der strukturellen und personellen Entnazifizierung in der SBZ, als "mit der Wurzel ausgerottet". Der "Antifaschismus" avancierte zum Gründungsmythos der DDR. Damit entfiel jede weitere Auseinandersetzung mit dem NS-Regime, ehemalige Größen stiegen nach ihrem Wechsel in die SED sogar in hohe Partei- und Staatsämter auf "antifaschistischem" Terrain auf.

Der dekretierte Antifaschismus der DDR hatte zwei Ziele: Er sollte den Wiederaufstieg der Nationalsozialisten verhindern und vor allem den Staatssozialismus der SED-Diktatur legitimieren. Insofern darf der Antifaschismusbegriff nie losgelöst von seinen staatssozialistischen Zielen verstanden werden, die sich ideologisch gegen die freiheitliche Demokratie richten.

Aufarbeitung ist nicht nur die Kenntnis der Diktatur

Doch zurück zu Adorno, der den Begriff der "Aufarbeitung der Vergangenheit" in die Diskussion einführte. Sein Verständnis von Aufarbeitung umfasst mehr als Bewahrung der Erinnerung der Vergangenheit. Adorno nimmt vielmehr die Geschichts- und Sozialwissenschaften für die Festigung der freiheitlichen Demokratie und die Stärkung des Bürgersinns in Anspruch. Genau das scheint mir die wichtigste Erkenntnis: Aufarbeitung ist nicht nur die Kenntnis der vergangenen Diktatur. Aufarbeitung ist auch nicht nur das Erinnern an die Verbrechen und das Gedenken an die Opfer. Aufarbeitung hat letztlich die demokratische Gegenwart zum Ausgangspunkt, von ihr gewinnt sie die Maßstäbe, mit denen sie die Vergangenheit bewertet: Freiheit, Menschenwürde, Menschenrechte. Damit aber zielt Aufarbeitung auf die Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft und einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft mit selbstbewussten Bürgern ab.

Hochkonjunktur bekam der Begriff der Aufarbeitung nach 1989. Seither ist er der zentrale Begriff der Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur. 1990, in der Debatte der frei gewählten Volkskammer zum Gesetz über die Zukunft der Stasi-Unterlagen, war er bereits Gemeingut. Joachim Gauck bezeichnete die "politische, historische und juristische Aufarbeitung" als die "grundsätzliche Zweckbestimmung und die grundsätzliche Richtung" des Stasi-Unterlagengesetzes. Allerdings wird der Begriff nirgendwo näher definiert. Man schien sich in dem Verständnis dessen, was Aufarbeitung zu bedeuten habe, ziemlich einig gewesen zu sein.

Sind wir es heute noch? Tatsächlich ist die Aufarbeitung der SED-Diktatur ein komplexes Unterfangen. Sie kann in verschiedenen Phasen unterschiedliche Schwerpunkte haben, je nachdem, was vordringlich scheint: die genaue Kenntnis des SED-Systems, seine Mechanismen, der ideologische Anspruch, die Unterdrückung und Verfolgung Andersdenkender, die politische Justiz, die Arbeit der Staatssicherheit und die Stasi-Haft im Besonderen, oder die Feststellung der Verantwortlichen, der Täter und Schuldigen und ihre Verfolgung, aber auch die Erinnerung an die Opfer und das Wissen um Opposition und Widerstand und den Mut Einzelner.

Das Glück im Privaten, Ursachen und Folgen

Zum weiten Feld der Aufarbeitung zählt aber auch das Leben in den viel zitierten Nischen, der Alltag in der Diktatur und das Glück im Privaten. Die Ursachen, die in die Diktatur geführt haben, müssen wir ebenso kennen wie die Folgen, die auch nach ihrem Ende weiterwirken und eine demokratische politische Kultur behindern können. Schließlich sind die institutionellen Konsequenzen in den Blick zu nehmen, die Herstellung einer freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung.

Die Aufarbeitung der Diktatur ist also ein vielschichtiger Prozess, der handfeste politische Aktionen ebenso umfasst wie intellektuelles und pädagogisches Nacharbeiten. Wesentliche Handlungsfelder sind: Die Veränderung der Strukturen, der Austausch von Eliten und die Säuberung der staatlichen Apparate, von Parteikadern und Stasi-Mitarbeitern. Die strafrechtliche Auseinandersetzung mit den Tätern, die angesichts rechtsstaatlicher Prinzipien nur in wenigen Fällen zu Verurteilungen führte und unbefriedigend blieb. Die Öffnung der Stasi-Akten auf der Basis des Stasi-Unterlagengesetzes, für dessen Erschließung, Betreuung und Verwaltung eine gewaltige Behörde geschaffen wurde. Die Wiedergutmachungen von Unrecht. Die öffentliche Auseinandersetzung im Bundestag, der über zwei Legislaturperioden hinweg zwei Enquete-Kommissionen eingerichtet hat, die die Vergangenheit und ihre Folgen aufgearbeitet und zwei gewaltige Berichte erstellt haben, die in 32 Bänden publiziert wurden.

Die Medien haben sich der Aufarbeitung auf unterschiedliche Weise, zum Teil sehr eindringlich, zum Teil verharmlosend, angenommen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte der SBZ und der DDR hat begonnen und bereits eine Fülle von Ergebnissen, insbesondere zum MfS, gezeitigt. In der politischen Bildungsarbeit wird Aufarbeitung geleistet. Auf Bundesebene wurde die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ins Leben gerufen, die vorzügliche Arbeit leistet. Schließlich ist die ganze Gedenkstättenlandschaft zu nennen, an der auch nach 20 Jahren noch weitergebaut wird, wie gegenwärtig an der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in Erfurt.

Die Aufarbeitung dort soll in einem neuen Konzept auf drei Säulen gestellt werden: Das Gedenken an die Opfer an einem authentischen Ort der MfS-Haft wird verknüpft mit einer komplexen Auseinandersetzung mit der Diktatur und mit der Erziehung zur freiheitlichen Demokratie.

Die SED war die Sonne, um die sich alles drehte

Denn die Andreasstraße war nicht nur ein Ort der Repression, sondern auch ein Ort der Befreiung, an dem die erste Stasi-Besetzung DDR-weit am 4. Dezember 1989 stattfand. Dort soll auch ein lange vernachlässigter Aspekt des Regimes nach vorn gerückt werden: die Rolle der SED, die das Zentrum der Herrschaft in der DDR, ihr eigentlicher Souverän laut Verfassung war. Sie war die Sonne, um die sich alles drehte und die auf alles ausstrahlte, die Partei, "die immer recht hat", wie Louis Fürnbergs entlarvende Hymne auf "die Partei", hier die sowjetische KP, im Refrain penetrant wiederholt. Wie konnte es dieser "Supermacht" gelingen, in den Umbruchszeiten 1989/90 fast völlig hinter ihrem eigenen "Schild und Schwert", dem MfS, zu verschwinden?

Die öffentliche und die wissenschaftliche Aufarbeitung hat die Monopolpartei hinter dem MfS bis heute weithin aus dem Blick verloren, sicherlich das Ergebnis des Situationsgeschicks der Führung, mit dem sie teilweise selber ihre Schergen ans Messer lieferte und bei den Stasi-Besetzungen auch mal vorn mitmarschierte. Diese historische Verwechselung von Koch und Kellner muss seriöse Aufarbeitung richtigstellen. Versucht man die vielen Facetten zu einer Definition zusammenzufügen, könnte diese lauten, dass Aufarbeitung der Vergangenheit ein aktives Erinnern des Einzelnen und der Gesellschaft in einem öffentlichen und offenen Prozess ist. Dieser Prozess richtet sich gegen Verdrängen und Vergessen oder gar Verniedlichen der diktatorischen Vergangenheit.

Letztes Ziel der Aufarbeitung ist die Erziehung der Menschen zu Bürgern und zur Demokratie. Auf der institutionellen Ebene ist es die Errichtung einer freiheitlich-demokratischen Verfassungsordnung, in der Grundrechte und Gewaltenteilung, insbesondere die Unabhängigkeit der Rechtsprechung gesichert sind, in der die politische Macht nur auf Zeit besteht und freie, gleiche und geheime Wahlen und diese im freien Wettbewerb der politischen Parteien und der Meinungsvielfalt der Zivilgesellschaft und ihrer Bürgerbewegungen und pluralistischen Initiativen stattfinden.

Aufarbeitung kann nur als ein offener Prozess funktionieren, der sich vor Dogmatisierungen hüten muss und der zu unterschiedlichen Zeiten auch unterschiedliche Blickwinkel hat: Für die Opfer kann hilfreich sein, sich mittels individueller Aufarbeitung von den Folgen zu befreien.

Der nachdiktatorischen Gesellschaft hilft Aufarbeitung, die Haupttäter und Mittäter zur Verantwortung zu ziehen, über Schuld und Sühne zu diskutieren, zu ihrer inneren Befriedung beizutragen und eine demokratische politische Kultur zu entwickeln. Wir haben die Demokratie in Deutschland zwei Mal im 20. Jahrhundert verloren, 1933 und 1945. Garantiert ist die freiheitliche Demokratie nie, das lehrt die Geschichte, sie ist und bleibt die zerbrechlichste, weil freiheitlichste Staatsform. Denn Demokratie wird nicht mit den Genen vererbt, sondern sie muss stets neu gewonnen werden.

Die Demokratieerziehung braucht dabei den Blick auf ihren Gegensatz, die Diktatur und ihren Gewaltcharakter. Hierzu leisten Gedenkstätten und Erinnerungsorte wichtige Beiträge, indem sie durch die Veranschaulichung von Gewaltherrschaft und menschlichem Leid den Wert von Menschenrechten und freiheitlich-demokratischen Verhältnissen vor Augen führen.

Legendenbildung entgegenwirken

Aufarbeitung der Vergangenheit ist immer ein Mehrfaches, das sich in sechs Feldern umreißen lässt: Die Aufklärung über das Geschehen, die Kenntnis der Diktatur und des Lebens. Damit wird auch der Legendenbildung einer guten alten DDR und ihrem Sozialparadies entgegengewirkt. Die Auseinandersetzung mit den Verantwortlichen, mit ihrer Schuld und seiner Sühne. Die Ablösung der alten Eliten. Die Würdigung der Opfer, das Gedenken an sie und ihre Rehabilitation. Die Etablierung einer freiheitlich-demokratischen Ordnung und ihre Sicherung durch Demokratieerziehung. Die Stabilisierung dieser Demokratie als Herrschafts- und Lebensform als eine generationenübergreifende ständige Aufgabe.

Letztes Ziel ist die Demokratieerziehung in der Auseinandersetzung mit der Diktaturgeschichte.

 

Prof. Dr. Hans-Joachim Veen / 19.03.12 / TA