Ein halbes Jahr DDR-Knast für den Satz: "Es lebe der 17. Juni"

Weil er "Es lebe der 17. Juni" auf die Straße schrieb, wurde Harald Ipolt 1978 als 19-Jähriger für fast sechs Monate in den Knast in der Erfurter Andreasstraße gesteckt. Hier zeigt er vor der damaligen Kreisdienststelle des Ministeriums für Staatssicherheit in der Gothaer Helenenstraße die Kopien seiner mehrere hundert Seiten umfassenden Vernehmungsakte. Heute ist in dem Haus die Musikschule. Foto: Peter Michaelis


59 Jahre liegt der Arbeiteraufstand zurück. Am 17. Juni 1953 gab es in der DDR Streiks, Demonstrationen und Proteste, die mit politischen und wirtschaftlichen Forderungen verbunden waren. 25 Jahre später hat Harald Ipolt als 19-Jähriger am Vorabend des 17. Juni mit Kreide auf die Straße seiner Heimatstadt Gotha diesen Satz geschrieben: Es lebe der 17. Juni. Dafür kam er für fast ein halbes Jahr in den Knast.

Wie kamen Sie auf die Idee, "Lang lebe der 17. Juni" auf die Straße zu schreiben?

Ich hatte im Westfernsehen etwas zur Geschichte des 17. Juni gehört - und mir gedacht: Man müsste mal was machen... Ich habe also Kreide genommen, bin raus und habe den Spruch an drei, vier Stellen auf die Straße geschrieben. Im Nachhinein stellt sich das als Leichtsinn dar. Heute würde man wohl sagen: Ein Dummer-Jungen-Streich. Aber das trifft es nicht...

...denn damals traf Sie die volle Härte der DDR. Wie kam Ihnen die Stasi auf die Schliche?

Das weiß ich nicht. Ich habe schon seit den frühen 1990er Jahren meine fast 300 Seiten dicke Vernehmungsakte, aber daraus geht das nicht hervor.

Wie kam es zur Verhaftung?

Zunächst passierte tagelang nichts: Das hat mich auch gar nicht gewundert. Aus meiner Sicht hatte ich ja nichts Verbotenes getan, sondern nur meine Meinung geäußert.

Dann kam ein Auto vorgefahren mit vier Herren drin...

Ich ging ganz normal zur Arbeit in die Kaufhalle in der Gothaer Marktstraße. Am 20. Juni hatten wir dort Inventur, danach putzte ich so um die Mittagszeit vorne die Scheiben. Da kam ein Auto vorgefahren mit vier Herren drin. Ich sag noch zu denen: Sie werden bestimmt nicht lange hier stehen. Da war Parkverbot. Das kümmerte die aber nicht. Sie gingen zum Chef. Zehn Minuten später wurde ich gerufen und dann haben sie mich mitgenommen. Es ging in die Helenenstraße, aber nicht zur Staatssicherheit, sondern zum Gefängnis. Da gab es einen Hintereingang und auch da hatte die Staatssicherheit noch zwei, drei Räume.

Nun waren Sie in den Fängen der Stasi. Haben Sie gleich eingeräumt, dass Sie den Satz geschrieben hatten?

Naja, die wussten das und haben es mir vorgehalten. Ich habe das nicht geleugnet, dafür bin ich einfach zu gut katholisch erzogen. Aber ich habe gleich gemerkt: Die wollten noch etwas anderes. Ich wurde nicht nur verhört, es wurden auch Stimmproben mit mir gemacht.

Warum das denn?

Das habe ich auch erst rausgekriegt, nachdem ich nach der Wende meine Akte lesen durfte: An diesem 16. Juni 1978 gab es offenbar mehrere Anrufe bei der SED-Kreisleitung und im Getriebewerk -auch mit Losungen zum 17. Juni. Deswegen waren die bei der Stasi so aufgeschreckt. Womöglich hätten sie sonst wegen dem Kreideschreiberei gar nicht viel unternommen...

So aber traf die Härte des Vorgehens auch Ihre Eltern. Was genau passierte da?

Erst viel später habe ich erfahren, dass mein Vater zu der Zeit, als ich verhört wurde, im Nebenzimmer zur Vernehmung war. Meine Eltern hatten ja von der ganzen Sache keine Ahnung gehabt. Ich hatte keinem etwas gesagt: Es war doch meine Freiheit, das zu tun.

Die Stasi war mittags mit sechs Leuten in unsere Neubauwohnung gekommen - zur Hausdurchsuchung. Meine Mutter ist vor lauter Schreck ohnmächtig geworden.

Sie sagen: Ich habe nichts Verbotenes gemacht. Die DDR hat das anders gesehen.

Klar: Es ging um Paragraph 106 und Paragraph 220.

Und was bedeutet das?

Paragraph 106 steht für staatsfeindliche Hetze. Paragraf 220 bedeutet: Der Beschuldigte hat mit seinem Handeln die staatliche Ordnung und die staatlichen Organe sowie deren Tätigkeit öffentlich herabgewürdigt.

Von Gotha ging es nach Erfurt in die Andreasstraße...

...aber das wusste ich nicht. Das erfuhr ich erst später durch Mitgefangene, mit denen ich dann in einer Zelle war.

Also in den Abendstunden hieß es: Kommen Sie mit. Ich wurde in einen geschlossenen Barkas verfrachtet. Da saß ich in einer engen Box. Gesehen habe ich nichts. Eine halbe Stunde waren wir vielleicht unterwegs. Dann wurde ich im Gefängnis erst mal fotografiert, musste meine Kleidung abgeben, wurde eingekleidet.

Die Andreasstraße war U-Haftanstalt. Warum ging es von dort ein halbes Jahr später wieder in die Freiheit für Sie?

Meine Verhandlung war am 24. November in Gotha so lange hat das gedauert. Am 28. November war die Urteilsverurteilung. Ein Jahr nach Paragraph 220 wegen Verunglimpfung öffentlicher Ordnung. Der Anwalt hat gesagt: Wir erkennen das Urteil an und Sie werden Weihnachten zu Hause sein. Also habe ich gewartet. In den Vollzug verlegt wurde ich nicht. Am 6. Dezember, also am Nikolaustag, war eigentlich die monatliche Besuchsstunde meiner Mutter. Aber niemand kam. Nachmittags wurde ich in eine Einzelzelle verlegt. Ich sollte zu keinem Häftling mehr Kontakt haben. In den Abendstunden wurde ich zu meinem Vernehmer gerufen und der sagte mir: Ich habe eine freudige Nachricht. Sie werden morgen entlassen. Die ganzen Formalitäten wurden am nächsten Vormittag erledigt. Meine Mutter und mein Bruder haben mich dann abgeholt.

Die Haftzeit endete am 7. Dezember 1978...

...und deshalb erhalte ich auch keine monatliche Rente, weil das ein paar Tage weniger als sechs Monate sind. Die Wiedergutmachung pro Haftmonat habe ich aber erhalten. Ich bin rehabilitiert.

Wie haben Sie diese fast sechs Monate im Knast in Erinnerung?

(atmet tief durch) Also: Natürlich war es schwer, von zu Hause weg zu sein. Aber meine Mitgefangenen waren alle aus politischen Gründen inhaftiert worden und deshalb haben wir uns auch gegenseitig geholfen. Wir hatten den ganzen Tag Zeit nachzudenken. Wir durften in der U-Haft ja nicht arbeiten, auch wenn wir gewollt hätten.

Und welche Rolle spielte Ihr Glaube?

Eine große Rolle. Sonntags habe ich die Domglocken gehört. Und ich erinnere mich noch gut an die Herbstwallfahrt: Seit ich vier war, war ich immer am dritten Sonntag im September mit dabei. 1978 habe ich die Wallfahrt am Fenster miterlebt: Da saß ich ganz oben auf dem Stockbett und habe versucht jeden Ton zu hören; einen freien Blick hatten wir ja nicht. Die Mitgefangenen in der Zelle habe Rücksicht genommen und sich nicht laut unterhalten. Für mich war das, was ich da hörte, erhebend. Und ich wusste auch, dass meine Eltern meinetwegen mit dem Bischof in Kontakt waren. Reden durfte ich darüber mit meiner Mutter in der einen Stunde Besuchszeit aber nicht.

Durch einen Brief meines Bruders wusste ich, dass viele mich in ihr Gebet eingeschlossen hatten. Das habe ich herauslesen können, obwohl das halbe Schreiben geschwärzt worden war.

Mit der Knast-Erfahrung war doch gewiss ein Stück Unbeschwertheit weg, oder?

Natürlich hat bei jedem das System Spuren hinterlassen: Von Einschüchterung würde ich bei mir nicht sprechen, aber ein bisschen Angst gab es schon.

Das alles in Kauf genommen und uns nicht verkauft

In die Zeit gleich nach der Freilassung fällt auch Ihre Begegnung mit Ihrer Frau Martina. Wann wurden Sie ein Paar?

Ich brauchte Halt. Martina und ich kannten uns von der Arbeit: Sie war auch Lehrling im Handel und hatte natürlich mitbekommen, was mit mir passiert war. Ich habe sie dann zu einer Geburtstagsfeier eingeladen - so fing das an im Januar 1979. Und noch im selben Jahr haben wir geheiratet. Wir haben unsere drei Kinder im Glauben und in Freiheit erzogen, so wie wir selbst erzogen wurden. Ich bin zu den Bausoldaten gegangen - auf die Insel Rügen. Meine Frau war mit den kleinen Kindern alleine zu Hause. Wir haben das alles in Kauf genommen, weil wir uns nicht verkauft haben. Ich habe mein Leben gelebt, mich und meine Werte nicht verraten - vor der Wende nicht und auch danach nicht.

Haben alle Menschen so vorurteilsfrei auf Sie reagiert wie Martina?

In meiner Umgebung schon, denn dazu zählten zu 90 Prozent Christen. Meine engsten Freunde, die ich heute noch habe, sind am 8. Dezember 1978 zu uns gekommen. Ich weiß das noch so genau, weil da schlimmes Glatteis war.

Und die Kollegen an der Arbeit?

Als durchsickerte, um was es eigentlich gegangen war, haben viele nur geschmunzelt. Ich hatte ja keinen umgebracht...

Wie lange waren Sie im Visier der Stasi?

Das kann ich so nicht sagen, denn ich habe nur die Vernehmungsakte. Aus der geht hervor, dass ich bis 1982 wohl unter Beobachtung stand. Zum Abschluss heißt es da: Ich hätte mich wieder gut eingelebt in meinem Arbeitsumfeld. Es habe keine besonderen Vorkommnisse gegeben. In der Akte ist aber auch ein Brief aus dem Jahr 1978 enthalten: Im März hatte ich damals an Thomas Koschwitz geschrieben. Der war damals Moderator bei HR3. Ich wollte eine Autogrammkarte. So etwas wurde damals abgefangen. Mir zeigt das: Ich war wohl schon vorher immer ein bisschen unter Beobachtung. Deshalb wollte ich auch immer noch mal meine Stasiakte beantragen...

Ein junger Mann schreibt einen Satz mit Kreide auf die Straße und wird dafür fast ein halbes Jahr weggesperrt. Was lehrt das über die DDR?

Ganz einfach: Die Meinungsfreiheit in der DDR war nicht gewährleistet. Die Stasi hatte die Aufgabe, hinter allem etwas ganz Schlimmes zu vermuten. Das, was mir passiert ist, zeigt wie in vielen anderen Fällen , dass es in der DDR keine Freiheit gab. In der Kirche hatten wir den Freiraum, offen reden zu dürfen. Wir haben nicht allen misstraut. So bin ich erzogen worden.

Und wenn nun einer aus Ihrer Umgebung Sie verraten hätte?

Dann wäre ich natürlich enttäuscht. Ich würde mit dem reden wollen.

In den Westen wollten Sie zu DDR-Zeiten nie?

Ganz klar: Nein! Bei einer der ersten Vernehmungen 1978 wurde mir gesagt: Wenn Sie meinen, so kommen Sie in den Westen, dann haben Sie sich geirrt! Das hat mich schockiert und zwar deshalb, weil für mich immer klar war: Ich lebe hier und ich will, wenn es irgendwie geht, nicht in den Westen. Es wäre natürlich etwas anderes gewesen, wenn ich hier gar keine Perspektive mehr gehabt hätte...

Wir wollten im Bürgerkomitee Freiheit für alle

Als die Wende kam...

...haben wir für die Sache gekämpft: Wir wollten nicht nur für uns die Freiheit, sondern für alle. Deshalb bin ich gleich ins Bürgerkomitee und weil ich jung war, habe ich gesagt: Ich bewache bei Nacht die Räume der Staatssicherheit in Gotha. Ich habe da aber absolut nicht an Rache gedacht.

Sie sind selbstständig im Handel, haben gerade ein Geschäft in Brotterode übernommen und klingen ganz frohgemut. Warum?

Wir haben gerade jetzt so viel zu tun und das ist gut, vor allem nach den Problemen, die es am vorherigen Standort wegen all der Baustellen dort gegeben hatte. Klar ist: Wir haben nie die Herausforderung gescheut. Sonst wären wir nicht mehr im Osten. (lacht) Aber ich muss auch sagen: Ohne unseren Glauben hätten wir - auch in den vergangenen Jahren - viele Situationen nicht überstanden.

Und was machen Sie an diesem 17. Juni, der auf einen Sonntag fällt?

Ich gehe wie immer sonntags in die Kirche. Und ich erhole mich von der Arbeitswoche. (lacht)

Für mich ist ganz wichtig, wenn ich zurückblicke, dass dieser 17. Juni 1953 der Anfang vom Ende war. Gottseidank konnten wir dieses Ende erleben und gottseidank waren wir 1989 jung genug, um die Möglichkeiten zu nutzen.

Das Zusammenwachsen Deutschlands wird bei uns ganz selbstverständlich in der Familie gelebt. Die Partner unsere beiden Töchter kommen aus den alten Ländern, von denen eine in Hamburg lebt.

 

Gerlinde Sommer / 17.06.12 / TLZ