Gedenken am 4. 12. 2009 18 Uhr vor der ehemaligen MfS-Berzirksverwaltung Andreasstraße Erfurt

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,

Mein Name ist Barbara Sengewald von der Gesellschaft für Zeitgeschichte

wir sind heute wieder hier zusammengekommen, um eines der wesentlichsten Ereignisse der friedlichen Revolution zu gedenken. Am 4. Dezember 1989 wurde hier die damalige Bezirksverwaltung des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit von Bürgerinnen und Bürgern besetzt.

Die „Frauen für Veränderung“, ein Zusammenschluss mehrerer Frauengruppen in Erfurt, gaben den Anstoß - und der Mut vieler führte zur Blockade, Besetzung und letztendlich zur Auflösung.

Ihnen allen wollen wir heute gedenken und danken.

In einem Telegramm des damaligen Leiters Generalmajor Schwarz  vom Mittag des 4.Dezember berichtet er nach Berlin:

„Seit ca. 10:00 wurden seitens Erfurter Bürger die …Zugänge zum Bezirksamt blockiert. In kürzester Zeit haben sich ca. 500 Personen an den drei Eingängen gesammelt. Durch die an der Blockade beteiligten … wurden alle Mitarbeiter …kontrolliert, einschließlich der mitgeführten Taschen und PKW. Es konnte nicht verhindert werden, dass Papiersäcke, die zur Verkollerung vorgesehen waren, durch die Vertreter des sogenannten Bürgerkomitees eingesehen wurden. Durch die Besetzung der Ein- und Ausgänge … ist das Bezirksamt handlungsunfähig.“

Derzeit ist die These zu hören, dass auch die Besetzung der Stasi von der SED selbst organisiert wurde. Selbstverständlich hat die Stasi grundsätzlich mit Aktionen gegen sie gerechnet, aber nicht gewusst wie, wann und wo. Wie wir heute wissen, haben Personen aus den Staatsorganen im Laufe des 4., 5. und 6. Dezember zunehmend Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse genommen, aber diese These trifft auf keinen Fall auf die Besetzung in Erfurt zu. Diese Aktion war spontan, überraschend für die Stasi und hat diese lahmgelegt.

Von Erfurt ging mit dieser Besetzung das Signal aus, die schärfste Waffe der SED, das MfS, unwirksam zu machen. Ein bis an die Zähne bewaffnetes System wurde mit friedlichen Mitteln überwunden.

Dieser Abschnitt im Prozess der gesellschaftlichen Umwandlung in der DDR, der hier begann, erlangte historische Dimension als Beispiel für den ganzen ehemaligen Ostblock. Die morgige Tagung wird dies darstellen und diskutieren. Erstmals in der Geschichte wurde ein Geheimdienst, der als Machtinstrument einer Diktatur gegen das eigene Volk gerichtet war, von diesem Volk selbst aufgelöst. Die Mittel der Repressionen des Staates gegenüber anders Denkenden, anders Aussehenden und anders Lebenden; die Bespitzelung in allen ihren Ausmaßen; die Planung der Internierungslager; das Durchdringen der Gesellschaft mit „Inoffiziellen Mitarbeitern“ (IM) und „Offizieren im besonderen Einsatz“ (OibE),  wurden öffentlich. Die Methoden und Arbeitsweise eines diktatorischen  Geheimdienstes als Machtinstrument einer Partei sind damit in all seiner Brutalität, aber auch seiner Begrenztheit sichtbar geworden.

Die Diktatur der SED hatte diese brutale Seite, sie ist hier in der ehemaligen Bezirksverwaltung und in der ehemaligen Haftanstalt des MfS nebenan real gewesen. Menschen, die politische Witze erzählt hatten, die aktiv in Oppositionsgruppen mitgearbeitet hatten oder die einfach nur ihr Menschenrecht auf freie Wahl des Lebensortes und damit auf Ausreise aus der DDR in Anspruch nehmen wollten, haben eingesessen. Sie wurden verhört, ihnen wurde gedroht und Geständnisse abgepresst.

Vieles haben wir geahnt, aber dennoch waren wir erschrocken über das ganze Ausmaß der Methoden von psychischer und auch physischer Einflussnahme, ja sogar Zerstörung von Menschen. Manche sind noch heute traumatisiert und krank davon, und irgendwie haben wir alle auch heute noch damit zu tun.

Von der brutalen Seite der Diktatur war – Gott sei Dank - nur eine Minderheit  unmittelbar betroffen. Aber die Diktatur in der DDR funktionierte im Alltag und griff in alle Lebensbereiche hinein. Sie war ein System ständiger staatlicher Bevormundung, dass vor allem eines verlangte: Anpassung. Wer immer in den vorgegebenen Bahnen blieb, wenn auch innerlich ablehnend, hatte kaum etwas zu befürchten. Der konnte es sich in der DDR gemütlich einrichten. Und viele haben den aufgezwungenen Verzicht auf eigene Meinung, auf bürgerliche Freiheit und Eigenständigkeit zunehmend nicht mehr wahrgenommen.

Aber die abwichen, die Ihre  eigenen Weg gehen wollten, bekamen sehr bald die Diktatur zu spüren. Sie wurden bestraft durch Entzug von bürgerlichen Rechten wie Bildungs- und Berufschancen. Und wer die immer wieder verlangten Ergebenheitsbeweise nicht erbrachte, hatte damit von selbst die Begründung dafür gegeben, nicht mehr würdig zu sein.

Diese Haltung, sich anzupassen, nicht auffallen zu wollen und verbriefte Rechte nicht einzufordern, haben so manche in der DDR aufgewachsene Bürger bis heute nicht abgelegt. Die Verantwortung auf „die da oben“ abschieben, keine Handlung ohne Vorschrift und vorauseilender Gehorsam; das sind Verhaltensmuster, die in Diktaturen entstehen.

Deshalb ist es so wichtig, diese alltägliche Diktatur zu verstehen, um zu verhindern, dass je wieder eine solche entstehen kann. Die kritische Mitarbeit am Gemeinwesen zum Anliegen der Menschen zu machen, das ist die  Voraussetzung für das  Funktionieren der Demokratie. Deshalb ist demokratische Bildungsarbeit für Kinder, Jugendliche und Erwachsene die wichtigste Aufgabe bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Hier neben dem ehemaligen Gebäude der Stasi-Bezirksverwaltung ist die ehemalige Stasi- Untersuchungshaftanstalt. Hier wird nun nach jahrelangen Bemühen eine Bildungs- und Gedenkstätte entstehen. Das ist denen zu danken, die sich dafür eingesetzt haben: Menschen, die bei der friedlichen Besetzung der STASI-Bezirksverwaltung am 4. 12. 1989 dabei waren ebenso wie ehemalige Häftlinge.

Auch hier hat Bürgerwille, Engagement und langer Atem zum Erfolg geführt.

Wir als Gesellschaft für Zeitgeschichte e.V. legen besonderen Wert darauf, dass bei der Entwicklung der Bildungs- und Gedenkstätte die politische Bildung im Vordergrund steht, dass alle Facetten der Diktatur gezeigt werden. Wir werden weiterhin uns bei der inhaltlichen Gestaltung  einbringen. Wir wünschen uns, dass dieser Ort Teil eines Netzwerkes der Aufarbeitungsinitiativen, Grenzmuseen und anderer Verbände wird, ein Teil des im Juni gegründeten „Geschichtsverbundes zur Aufarbeitung der SED Diktatur“ in Thüringen.

Dieser 20. Jahrestag  bedeutet auch 20 Jahre Bemühung um Aufarbeitung, Bemühung um die authentische und wahrheitsgetreue Wiedergabe der Ereignisse, der Geschichte, Bemühen um Gerechtigkeit für Opfer und Täter, auch um Versöhnung. Das geht nicht ohne Kraftanstrengung, Diskussionen und „Herzblut“.  Das Hin und Her über die Konzeptionen dieser Bildungs- und Gedenkstätte ist exemplarisch für die unterschiedlichen Ansichten. Aber in Geschichtsschreibung und Aufarbeitung dürfen Mehrheitsverhältnisse oder gar politische Machtstrukturen keine Rolle spielen. Hier ist vor allem Pluralität gefragt, in der die subjektive Vielfalt der Zeitzeugen und wissenschaftliche Forschung  nebeneinander stehen können und sich ergänzen. Die Wahrheit über das, was geschehen ist, ist immer individuell.

Nicht alle Vorstellungen von damals wurden umgesetzt. Aber wir haben die Freiheit der Meinung, der Presse, der Rede und Reisefreiheit. Wir haben demokratische Rechte erkämpft.

Nehmen wir diese Freiheit, die demokratischen Rechte in Anspruch. Fordern wir Veränderungen, dort wo wir unzufrieden sind, wo wir Ungerechtigkeit und Unwürdiges in Strukturen und Gesetzen erleben. Lassen wir uns nicht zu viel gefallen, verbünden wir uns mit Gleichgesinnten, bilden wir Bürgerinitiativen um konkret Dinge zu ändern. Das alles können und dürfen wir seit 20 Jahren, das haben wir mit  unserer gemeinsamen Kraft und unserem Selbstbewusstsein errungen. Werden wir uns dem immer wieder bewusst und gestalten die Demokratie. Vergessen wir nicht, dass Bürgermut, der Anstoß weniger und die Beteiligung vieler, die Verhältnisse verändern können.

Denn wir sind das Volk.