Ziviler Ungehorsam gegen rechtsextreme Aufmärsche

Gegendemonstration und Blockade eines NPD-Aufmarsches am 1.5. 2005 in Erfurt


Lothar König redet zu den Demonstranten und vermittelt zur Polizei



Aufgrund der Blockade konnte die NPD nicht die vorgesehene Route marschieren. Sie mussten auf der Wiese, die als Beginn vorgesehen war, warten. Nach etwa 3 Stunden wurde der NPD-Aufmarsch durch die Polizei beendet.

(Das Jenaer Aktionsnetzwerk gegen Rechtsextremismus veröffentlicht diesen Text, um die Debatte über den Hintergrund und die Perspektive Zivilen Ungehorsams zu intensivieren. Der Autor (Peter Zimmermann) und die HerausgeberInnen stehen für die Diskussion zur Verfügung.
Juli 2008)

Anlass für die folgenden Überlegungen sind die Erfahrungen von örtlichen und regionalen Bürgeraktivitäten und Initiativgruppen, die sich seit Jahren gegen die öffentlichen Selbstdarstellungen rechtsradikaler Gruppen und Parteien zur Wehr setzen – und sie dennoch nicht verhindern können. Das Recht zu Umzügen, Demonstrationen und Kundgebungen erstreiten Rechtsradikale in der Regel durch Gerichtsbeschlüsse, die gegen die meist von kommunalen Verwaltungen ausgesprochene Verweigerung von öffentlichem Raum ergehen.  

Das Dilemma besteht darin, dass es zwar einen öffentlichen, von Politikern aller demokratischen Parteien meist im Modus anlassbezogener Kampagnen immer wieder postuliertenWiderspruch gegen rechtsextreme Denk‐ und Verhaltensweisen gibt, der Rechtsstaat jedoch keine Mittel findet, deren Manifestationen in der Öffentlichkeit zu verhindern.
Verbale Abgrenzungen, historische Aufklärung, Gegendemonstrationen, Beratung in Schulen, Kommunen und Vereinen, Einübung in demokratische Mitwirkungsformen sind notwendige und unverzichtbare Bestandteile der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit rechtsradikalen Einstellungen. Aber unter Akteuren des zivilgesellschaftlichen Engagements, die zugleich überwiegend die Träger der Auseinandersetzungen vor Ort sind, verbreitet sich zunehmend die Erkenntnis, dass dieses ganze Repertoire zunichtegemacht wird angesichts einer träge und formalistisch arbeitenden Justiz, die offensichtlich keinen ausgeprägten Sensus hat für das Gefährdungspotenzial, das hier entstanden ist – und einer Polizei, die von der politischen Führung nicht angehalten wird, ihre Spielräume umfassend und energisch zu nutzen, um den Rechtsradikalismus in die Schranken zu weisen. Allein die Existenz von „no‐go‐areas“, also „weißen Flecken auf der Landkarte des Grundgesetzes“, ist ein Zeichen für den eklatanten Mangel an Durchsetzungsfähigkeit gegenüber rechtsextremen Machtansprüchen.
Derartige Vergeblichkeitserfahrungen führen zunehmend zu der Feststellung, dass der Staat und seine Institutionen sich von der Gesellschaft zurückzieht und sie sich selbst  überlässt. Das ist der Hintergrund für die wachsende Bedeutung, die der Gedanke des Zivilen Ungehorsams gewinnt. Er will auf solche schwerwiegenden Mängel aufmerksam  machen und zu ihrer Beseitigung beitragen. Wenn der Rechtsstaat sich apathisch verhält und gegen die latente Verfassungsfeindlichkeit der Rechtsextremisten keine Kraft aufbringt, dann müssen die Bürger selbst für die Verfassung eintreten. Das ist die Logik, die dem Zivilen Ungehorsam in diesem konkreten Fall zugrunde liegt. Dass damit
die Zivilgesellschaft auf die Dauer überfordert ist, liegt auf der Hand; es ist auch in der Konstruktion unseres Rechtssystems nicht vorgesehen. Deshalb haben ihre Aktionen den Charakter einer nachdrücklichen Aufforderung.

Ziviler Ungehorsam als Mittel des Protests gegen eine die Allgemeinheit und ihre Lebensgrundsätze bedrohende Gefahr, der der Rechtsstaat und seine Institutionen Polizei und Justiz die gebührende Aufmerksamkeit verweigern, führt in einen Konflikt zwischen dem, was als legal anzusehen ist, weil es durch Gesetz geregelt ist – und dem was legitim ist, weil es in einem weitergehenden Sinn der Wahrung der Menschenwürde dient.
Es ist gegenwärtig legal, also dem Buchstaben des Gesetzes und seiner aktuellen Auslegung durch ein Gericht entsprechend, dass rechtsextremistische Gruppen und Parteien Demonstrationen durchführen, aber es ist nach Meinung der Gegendemonstranten nicht legitim, weil sie damit ihre menschenfeindlichen Absichten in die Öffentlichkeit tragen und für sie werben.

Die „Institution“, die allein eine ethisch qualifizierte Entscheidung zum Zivilen Ungehorsam treffen kann, ist das Gewissen des Bürgers.
Die Gewissensentscheidung wird dadurch qualifiziert, glaubwürdig und erkennbar, dass sie in Kauf nimmt, für die daraus folgende Handlung mit Strafe belegt zu werden. Eine Sitzblockade auf der Straße mit ihren ordnungsrechtlichen Konsequenzen ist deshalb durchaus kein besonders nahe liegender Entschluss frustrierter Gegendemonstranten oder eine beliebige Spielart der Demonstrationstaktik. Für Bürger, deren Motiv der Schutz des Grundgesetzes ist, wenn sie sich an einer Demonstration gegen rechtsradikale Auftritte beteiligen, kann es also keine schnelle oder spontane Entscheidung sein, sich über ein Gesetz hinweg zu setzen. Sie muss begründet und öffentlich vertretbar sein.
Dieser Vorgang berührt zudem einen besonders wichtigen und schützenswerten Bereich des Rechtssystems – das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit.
Wenn dieses Recht zum Pluralismus der Meinungen, mit dem die Demokratie steht und fällt, von der extremistischen Rechten dazu benutzt wird, öffentlich ihr Ideal vom autoritären Führerstaat zu verbreiten, verwirkt sie es. Das liegt in der Logik dieses Rechtsgutes.

Die Gewissensentscheidung zum Zivilen Ungehorsam beruht freilich nicht auf einer behaupteten Offenbarung der Wahrheit, einer individualistischen Sondermoral oder einem exklusiven Recht. Sie legitimiert sich dadurch, dass der Einzelne keinen Vorteil für sich selbst damit erreichen will und dass sie auf dem grundsätzlich für Alle einsichtigen Prinzip der unteilbaren Menschenwürde beruht. Die Anhänger rechtsextremistischer Einstellungen bestreiten die Menschenwürde durch ihre Behauptung von der prinzipiellen Ungleichwertigkeit der Menschen. Gewissenhaft verhält sich, wer um der gleichen Würde aller Menschen willen gegen die Gefährdung  dieses fundamentalen Verfassungswertes protestiert und die Strafe dafür auf sich nimmt – zur Schande und zum Mahnzeichen für eine Justiz, die nicht die Kraft hat, ihr eigenes Grundprinzip durchzusetzen.

Ziviler Ungehorsam findet seine Rechtfertigung unter den Umständen eines demokratischen Staatswesens darin, dass er auf einen Mangel in einem Teilbereich hinweist. Er ist nicht darauf gerichtet, das Grundgesetz zu schwächen oder gar außer Kraft zu setzen und die Bedeutung von Gesetzen für das Zusammenleben der Menschen zu leugnen. Hier liegt der Unterschied zwischen Zivilem Ungehorsam und Widerstand, der auf eine grundsätzliche Änderung der Staatsform, auch mit Gewaltmitteln, aus ist.

Es entspricht dem Geist, der Logik und der Praxis des Zivilen Ungehorsams, strikt gewaltfrei vorzugehen. Das Ziel, für das er eintritt, die Bekämpfung des Rechtsextremismus als gesellschaftliches Problem mit rechtsstaatlichen Mitteln, würde verdorben und unglaubwürdig, wenn die Bürger dabei selbst zur Gewalt griffen. In der Frage der Gewaltanwendung manifestiert sich die Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Gruppen, die gegen Rechtsradikalismus aktiv sind. Die Unterscheidung von Gewalt gegen Sachen und gegen Personen ist dabei ohne Bedeutung: Ziviler Ungehorsam handelt gewaltlos.

Auch wenn der Entschluss zum Zivilen Ungehorsam auf der Gewissensentscheidung des Einzelnen beruht und moralischer Druck anderer oder Gruppenzwang eine Verletzung der Freiheit des Gewissens bedeuten würde, bedarf der praktische Vollzug der Regelverletzung einer Organisationsform, in der der Einzelne seiner Entscheidung öffentlich wahrnehmbares Gewicht verleiht. Die Organisation muss so beschaffen sein, dass sie für die Bürger, die die öffentlich kommunizierten Ziele teilen, leicht zugänglich ist und Teilhabe an Entscheidungsvorgängen ermöglicht. Sie ist das Mittel zu dem Zweck, aus der Gewissensentscheidung Einzelner zu einer politischen Einwirkung vieler Gleichgesinnter zu gelangen.

An den Auseinandersetzungen um die Berechtigung des Zivilen Ungehorsams lässt sich die Scheidelinie zwischen einem formalen, legalistischen Verständnis des Staates und seiner Institutionen erkennen, das den Gehorsam des Bürgers verlangt – und der Erkenntnis, dass auch in einem demokratischen Rechtsstaat legale Regelungen illegitim sein können. Diese Tatsache ergibt sich allein daraus, dass die Rechtsordnung kein zu Ende entwickeltes, fertiges und abgeschlossenes Gebilde ist, sondern unablässig auf neue Entwicklungen reagieren muss, um seine Substanz und Legitimität anzupassen. Im Unterschied zu totalitären Systemen entwickelt sich eine demokratische Rechtsordnung in einem grundsätzlich unabgeschlossenen Prozess. Dabei ist sie ständig auf das Legitimitätsvertrauen der Bürger angewiesen und muss darum werben. Die Konstruktion des Rechtsstaates enthält diesen anhaltenden Revisionsbedarf bereits in sich selbst: die dreimalige Lesung der Gesetzesvorlagen im Parlament bis zum Instanzenweg der Gerichte  zeigt, dass Revisionsmöglichkeiten nicht ausgeschlossen werden sollen. Was also zunächst Regelverletzung und Ordnungswidrigkeit ist, soll die Politik, den Gesetzgeber und seine Institutionen aufmerksam dafür machen, dass gesellschaftliche Vorgänge wie die Erstarkung des Rechtsradikalismus größere Beachtung und entschiedenere Verurteilung erfordern. Sofern das gelingt, erweist sich der Zivile Ungehorsam der Bürger als „eine Form des  aktiven Verfassungsschutzes.“ Seine Widersetzlichkeit gegen die unzulängliche Abwehr rechtsradikaler Aktivitäten durch staatliche Institutionen ist eine von den Erfahrungen der deutschen Geschichte gespeiste Form der Zivilcourage.

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