Die friedliche Revolution 1989 - 20 Jahre danach

Von Eckhard Jesse

 

Die Zäsuren in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts sind mit festen Daten verbunden: der 09. November 1918 war das Ende des Kaiserreiches und der Anfang der ersten deutschen Demokratie, der 30. Januar 1933 der Beginn des Dritten Reiches, der 08. Mai 1945 dessen Ende. Schwieriger ist es jedoch, das Ende der DDR-Diktatur zu datieren. War es der 07. Oktober 1989, der 09. November 1989 oder der 01. Dezember 1989, als die Volkskammer die führende Rolle der SED aus der Verfassung strich? Das hängt maßgeblich mit dem friedlichen Verlauf der Revolution in der DDR zusammen, die in den Zusammenbruch des „Vaterlandes aller Vaterländer“ eingebettet war. Michail Gorbatschow, der das Sowjetsystem reformieren wollte, war wider Willen dessen Totengräber. In Polen und Ungarn vollzog sich 1989 ein ausgehandelter Übergang von einer Diktatur zu einer Demokratie. Die Sowjetunion widersetzte sich nicht diesem revolutionären Prozess, der auch die anderen Staaten des Ostblocks heimsuchte. Mit der Öffnung der Mauer setzte ein weiterer Zerfall des Ostblocks ein. „Die sintflutartigen Ereignisse des Herbstes 1989 hatten die Grundlagen des sowjetischen Imperiums unterspült, die Eckpfeiler des politischen und wirtschaftlichen Bündnissystems, auf dem es ruhte, mit hinweggerissen, selbst wenn es pro forma noch eineinhalb Jahre weiter bestand und erst im Sommer 1991 endgültig zu Grabe getragen wurde.“[1] Freilich hatte die Sowjetunion mit ihren Reformen erst die Voraussetzung dafür geschaffen.

20 Jahre nach der friedlichen Revolution in der DDR, einem Vasallenstaat der Sowjetunion, wird immer klarer, dass diese nicht nur innere, sondern auch äußere Ursachen hatte. Der Zerfall des Kommunismus in dem einen Land beförderte und beschleunigte ihn in einem anderen. Der ungarische György Dalos hat jüngst das „Ende der Diktaturen in Osteuropa“ meisterhaft eingefangen.[2] Gleichwohl gab es Spezifika in den einzelnen Staaten. In der DDR war es die Existenz des anderen deutschen Staates, auf den die Bevölkerung fixiert war, die Masse positiv, die politische Spitze negativ. Die Vielzahl der jüngsten Monographien[3] und Sammelbände[4] bringt diesen Sachverhalt nicht immer deutlich genug zum Ausdruck.

Hingegen wird die regionale Breite der oppositionellen Bewegung gut deutlich.[5] Der Sozialismus „in den Farben der DDR“[6], so Erich Honecker Ende 1988, entfaltete keine Anziehungskraft. Im Gegenteil: Das ökonomisch weitgehend marode System stand vor dem Bankrott. Das hinderte Honecker aber nicht daran, im Januar 1989 offensiv die Beibehaltung der Mauer zu verteidigen: „Sie wird in 50 und auch in 100 Jahren noch bestehen bleiben, wenn die dazu vorhandenen Gründe noch nicht beseitigt sind.“[7] Kritiker Honeckers pflichteten ihm in der Diagnose bei. Ein Zusammenbruch des Kommunismus schien ungeachtet aller augenfälligen Krisenerscheinugen nicht bevorzustehen.

Die Krise des Systems offenbarte sich einer größeren Öffentlichkeit schlagartig nach den Kommunalwahlen. Der 07. Mai 1989 ist eine der Wegmarken für die friedliche Herbstrevolution - weniger durch das Ereignis an sich als durch die Folgen. An diesem Tag fanden Kommunalwahlen in der DDR statt. Die offizielle Lesart: 98,85 Prozent stimmten für die Kandidaten der „Nationalen Front“. Die Bekanntgabe des „Ergebnisses“ löste erhebliche Proteste aus. Was bei der Volkskammerwahl 1986 gescheitert war, gelang Repräsentanten der Bürgerrechtsgruppen in Ost-Berlin und einigen anderen Städten sowie Ausreisewilligen: Sie hatten sich zusammengefunden, den Auszählungen in den Wahllokalen beigewohnt, etwa 10 bis 15 Prozent Gegenstimmen festgestellt und dies publik gemacht.

Der Unmut artikulierte sich angesichts der vielfältig angespannten Situation stärker als früher auch an der Wahlurne. In Polen, Ungarn und selbst in der Sowjetunion waren Reformen zur Revision der bisherigen Wahlpraxis beschlossen worden. Gewiss, die Wahlen ohne Auswahl in der DDR (der Volksmund sprach von „Falten gehen“) stellten ohnehin eine Farce dar. Aber jetzt ließ sich der Nachweis führen: Die Scheinwahlen werden sogar noch gefälscht, um zu dem berüchtigten 99-Prozent-Ergebnis zu gelangen. Das war nach dem DDR-Strafgesetzbuch verboten. Die Aktionen der Bewegung zur Kontrolle des Wahlausgangs und dann zur Anprangerung der Wahlfälschung stellten für die SED-Führung ein heikles Thema dar, das selbst systemkritische Kreise lange vernachlässigt hatten; es stieß auf große Resonanz in der gesamten Bevölkerung.[8] Das war zuvor bei vielen Bestrebungen alternativer Kräfte, die unter dem schützenden Dach der Kirche eine Art „dritten Weg“ für die DDR vorsahen, nicht immer der Fall. Hinfort gingen Bürgerrechtler über eine systemimmanente Kritik an der Wahlfälschung hinaus. Die Vernetzung der systemkritischen Kräfte beschleunigte sich nach und wegen der Kommunalwahl; die Radikalität der Forderungen nahm zu. Die Wahlfrage geriet zur Machtfrage.

Bürgerrechtler verfassten gegen die Fälschung der Wahlen Eingaben, erstatteten Strafanzeigen, gründeten eine „Koordinierungsgruppe Wahlen“ und publizierten einen Monat nach der Kommunalwahl eine Dokumentation unter dem Titel „Wahlfall 89“. An jedem 07. eines Monats fanden nun auf dem Berliner Alexanderplatz unter der Weltzeituhr (mehr oder weniger schnell aufgelöste) Protestkundgebungen „feindlich-negativer Kräfte“, so der Jargon der SED, gegen die Wahlfälschung statt, ebenso in Leipzig und einigen weiteren Städten.

Egon Krenz, als Vorsitzender der zentralen Wahlkommission, verantwortlich für die Wahlfälschungen, goss Öl ins Feuer, als er die blutige Niederschlagung der Studentenunruhen durch die chinesischen Kommunisten im Juni 1989 öffentlich gerechtfertigt hatte.

Durch den Abbau der ungarischen Grenzbefestigungen gegenüber Österreich im Mai 1989 entstand zwischen beiden Ländern eine „grüne Grenze“, auch wenn Ungarn DDR-Bürger zunächst am Verlassen des Landes hinderte. Am 11. September schließlich, einem Schlüsseldatum, ließ Ungarn die Fluchtwilligen über Österreich in die Bundesrepublik ausreisen. Flüchtlinge, die in den bundesdeutschen Botschaften Polens, Ungarns und der CSSR waren, gelangten durch Absprachen hinter den Kulissen ebenfalls in die Freiheit. Diese Fluchtwelle zog eine friedliche Demonstrationswelle der Zurückgebliebenen nach sich. „Wir wollen raus“ wurde bald überlagert von Stimmen, die „Wir bleiben hier“ riefen. Beide Entwicklungen - die Flucht- und die Demonstrationsbewegung - lähmten das hilflos reagierende Regime, an dessen Spitze mit Erich Honecker ein kranker und alter Mann stand, und brachten es zum Einsturz.[9]

Die Feiern zum 40jährigen Gründungstag der DDR am 07. Oktober in bewährter Form mit großer Militärparade offenbarten eine gespenstische Atmosphäre. „Drinnen“ wurde pompös gefeiert, „draußen“ friedlich protestiert. In der Folge eskalierte die öffentliche Unzufriedenheit zusehends. In Dresden begann am 08. Oktober nach Tumulten ein „Dialog“ zwischen der Staatsmacht und Bürgern („Gruppe der 20“). Am 09. Oktober demonstrierten in der „Heldenstadt“ Leipzig etwa 70.000 Menschen für einen „friedlichen Dialog“. Die Sicherheitskräfte hielten sich zurück. Damit war klar: Das Militär wird nicht zur Zerschlagung der gewaltlos agierenden Protestbewegung eingesetzt. Egon Krenz wollte sich nach dem Sturz Honeckers am 18. Oktober - aus „gesundheitlichen Gründen“ legte er sein Amt nieder - an die Spitze der Reformbewegung stellen, um ihr die Spitze zu nehmen. Doch Krenz besaß bei den Massen keinen Kredit. Auf dem Alexanderplatz fand im Osten Berlins am 04. November mit ca. einer Million Menschen die größte nicht vom Staat initiierte Kundgebung statt. Die einst Ohnmächtigen bekamen Macht, die bisherigen Mächtigen erfuhren bald Ohnmacht.

Die Mauer wurde schließlich am 09. November aus demselben Grund geöffnet, aus dem sie am 13. August 1961 entstand: um die Macht der Herrschenden zu sichern. Was 1961 einigermaßen gelang (die DDR stabilisierte sich in der Folgezeit etwas), misslang 1989: Die DDR verlor die letzten Reste ihrer Stabilität. „Wahnsinn“ - so lautete „das“ Wort für das als unfassbar Geltende. Am 01. Dezember 1989 tilgte die undemokratisch zustande gekommene Volkskammer die „führende Rolle der SED“ aus der Verfassung; am 07. Dezember tagte in Ost-Berlin der „Zentrale Runde Tisch“ zum ersten Mal. „Neue“ und „alte“ Kräfte kamen in gleicher Anzahl zusammen. Die DDR begann, sich in einem atemberaubenden Tempo zu demokratisieren.

Die Ursachen für den Umsturz sind vielfältiger Natur. Die DDR war weder demokratisch legitimiert noch ökonomisch stabil - auch vor dem Herbst 1989. Es kann nicht oft genug betont werden: Erst der offenkundig sowjetische Rückzug - die Aufgabe der Breschnew-Doktrin - ließ den Protest anschwellen. Die Staatsführung stand ohne Rückendeckung da und verzichtete auf den Einsatz militärischer Mittel. Was Leonid Breschnew Erich Honecker 1970 gesagt hatte, entsprach der Wirklichkeit: „Die DDR kann ohne uns, ohne die SU, ihre Macht und Stärke, nicht existieren. Ohne uns gibt es keine DDR.“[10]

Ausgerechnet die Staatssicherheit, die zumal in den achtziger Jahren flächendeckend schnüffelte, verhielt sich in der Phase des Umbruchs abwartend und griff nicht aktiv in den politischen (Verfalls-)Prozess ein, hatte allerdings in den oppositionellen Gruppierungen ihre Informanten untergebracht.[11] Sie war kein „Staat im Staate“, sondern der allmächtigen SED untergeordnet. Weil diese ideologisch entkräftet und gelähmt war, agierte auch die Staatssicherheit nicht. Sie, die alle oppositionellen Gruppierungen unschädlich machen sollte, blieb eigentümlich passiv. Die ostdeutsche Diktatur konnte sich offenkundig nicht mehr auf die Bajonette der Sowjetunion verlassen wie bei der Niederschlagung der Volkserhebung am 17. Juni 1953.

Bald nach Öffnung der Mauer änderten die Massendemonstrationen ihren Charakter: Die Losung „Wir sind das Volk“ schlug in die Losung „Wir sind ein Volk“ um. Die zweite Phase der Revolution begann, die „Einheitsrevolution“ folgte der „Freiheitsrevolution“. Ein „neues Experiment“, eine Art dritter Weg, kam für die meisten DDR-Bürger nicht in Frage. Der öffentlichkeitswirksame Aufruf „Für unser Land“ von manchen Repräsentanten aus dem Kulturleben der Kirche und der Opposition wollte den Weg zur deutschen Einheit aufhalten - vergebens: „Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln.“[12] Hohe Funktionäre der SED schlossen sich diesem Aufruf an. „Deutschland einig Vaterland“ – diese Wendung aus der DDR-Nationalhymne war die beherrschende Parole auf den Kundgebungen zu Ende des Jahres 1989 und zu Beginn des Jahres 1990.

Nach der ersten und letzten demokratischen Volkskammerwahl am 18. März 1990, die mit einem klaren Sieg der von der CDU dominierten „Allianz für Deutschland“ endete, beschleunigte sich der Kurs in Richtung Einheit. Es war nicht „der“ Westen, sondern „der“ Osten, der das hohe Tempo vorgab. Staatsvertrag, Wahlvertrag und Einigungsvertrag wurden in kürzester Zeit verabschiedet. Die demokratisch gewordene DDR trat der Bundesrepublik bei. Am 03. Oktober 1990, kein Jahr nach dem 40. Jahrestag der Diktatur auf deutschem Boden, war Deutschland wiedervereint, das künstliche DDR-Gebilde damit am Ende.

Der Sturz der SED fügte sich in den Sturz anderer kommunistischer Systeme ein. Zum Teil folgte er ihm, zum Teil ging er ihm voraus. Das Spezifische an der deutschen Herbstrevolution war, dass sie in die Einheit des geteilten Landes mündete. In der Tschechoslowakei hingegen entstand aus dem geeinten Land dessen Teilung. Wer nach 20 Jahren auf die damaligen tektonischen Vorgänge zurückblickt, kann dies mit Zufriedenheit

tun, auch wenn nicht alle Blütenträume in Erfüllung gegangen sind. Das gilt etwa für die Frage der Aufarbeitung der diktatorischen Vergangenheit. So wurden nur 46 Täter zu einer Haftstrafe verurteilt: 30 wegen Gewalttaten an der Grenze, drei wegen der Verbrechen des Ministeriums für Staatssicherheit, zwei wegen Gefangenenmisshandlung, vier wegen Amtsmissbrauch und Korruption, sieben wegen Rechtsbeugung.[13] Dass die aus der SED hervorgegangene Partei „Die Linke“ einen beträchtlichen Einfluss besitzt, ist u. a. eine Konsequenz der Friedlichkeit der Revolution.

 

Prof. Dr. Eckhard Jesse | Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaft an der TU Chemnitz und

Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft | Chemnitz

 



[1] So Helmut Altrichter: Russland 1989. Der Untergang des sowjetischen Imperiums, München 2009, S. 318.

 

[2] Vgl. György Dalos: Der Vorhang geht auf. Das Ende der Diktaturen in Osteuropa, München 2009.

 

[3] Ehrhart Neubert: Unsere Revolution. Die Geschichte der Jahre 1989/90, München 2008; Ilko-Sascha

Kowalczuk: Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009; Wolfgang Schuller: Die deutsche

Revolution, Berlin 2009.

 

[4] Vgl. Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.): Revolution und Vereinigung 1989/90. Als in Deutschland die Realität die

Phantasie überflügelte, München 2009; Eckardt Conze/Katharina Gajdukowa/Sigrid Koch-Baumgarten (Hrsg.):

Die demokratische Revolution 1989 in der DDR, Köln u. a. 2009.

 

[5] Vgl. Micheal Richter: Die Friedliche Revolution. Aufbruch zur Demokratie in Sachsen 1989/90, 2 Bde.,

Göttingen 2009; Sebastian Stude: Die friedliche Revolution 1989/90 in Halle/Saale. Ereignisse, Akteure und

Hintergründe, Frankfurt a. M. 2009; Patrick Wagner (Hrsg.): Schritte zur Freiheit. Die friedliche Revolution

1989/90 in Halle an der Saale, Halle 2009; Wilfried Lübeck/Gerhard Ruden (Hrsg.): Aufbruch 1989. Die

friedliche Revolution im Bezirk Magdeburg, Halle 2009.

 

[6] Zitiert nach Ilse Spittmann: Sozialismus in den Farben der DDR, in: Deutschland Archiv 22 (1989), S. 42.

 

[7] Zitiert nach ebd., S. 243.

 

 

[8] Vgl. für Einzelheiten Hans Michael Kloth: Vom „Zettelfalten“ zum freien Wählen. Die Demokratisierung der

DDR 1089/90 und die „Wahlfrage“, Berlin 2000, S. 115-309.

 

[9] Vgl. Albert O. Hirschmann: Abwanderung und Widerspruch und das Schicksal der Deutschen Demokratischen

Republik. Ein Essay zur konzeptuellen Geschichte, in: Leviathan 20 (1992), S. 330-358.

 

 

[10] Zitiert nach Andreas Rödder: Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München

2009, S. 116.

 

[11] Vgl. Walter Süß: Staatssicherheit am Ende. Warum es den Mächtigen nicht gelang, 1989 eine Revolution zu

verhindern, Berlin 1999.

 

[12] Der Aufruf „Für unser Land“ ist u. a. abgedruckt bei Charles Schüddekopf (Hrsg.): „Wir sind das Volk!“

Flugschriften, Aufrufe und Texte einer deutschen Revolution, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 240 f.

 

 

[13] Vgl. Uwe Müller/Grit Hartmann: Vorwärts und vergessen! Kader, Spitzel und Komplizen: Das gefährliche

Erbe der SED-Diktatur, Berlin 2009, S. 65-72.