"Unrechtsstaat" - seit 1853 fürchten Staatsverbrecher dieses Wort

Von Matthias Heine

"Die Welt" 07.10.14

 Das Wort „Unrechtsstaat“ ist nicht für die DDR erfunden worden. Es wurde auch schon für das deutsche Kaiserreich und für das Nazi-Regime gebraucht Das Wort "Unrechtsstaat" ist nicht für die DDR erfunden worden. Es wurde auch schon für das deutsche Kaiserreich und für das Nazi-Regime gebraucht
Foto: Infografik Die Welt

War die DDR ein Unrechtsstaat wie das Nazi-Regime? Die SPD hatte früher eine klare Meinung über „rot lackierte Faschisten“ und ihr System. Erfunden hat das Wort aber ein preußischer Katholik.

In Berlin hat sich ein Politiker die Mühe gemacht, das Wort Unrechtsstaat, über das seit Wochen in Deutschland gestritten wird, mal etwas genauer zu definieren: "Ich denke, der Rechtsstaat besteht darin, dass der Obrigkeit das Schwert zum Schrecken der Bösen anvertraut ist, und zum Schutze derer, die in ihrem Recht sind, ihr Recht üben; einen Unrechtsstaat würde man dagegen meines Erachtens denjenigen zu nennen haben, welcher die Unruhestifter schützen und diejenigen bedrohen wollte, die in ihrem Rechte sind." Wer diese Begriffsbestimmung für die heutige Diskussion um den rechtlichen Status der DDR nicht allzu hilfreich findet, dem sei verraten, dass sie 161 Jahre alt ist. Ausgesprochen hat sie der Abgeordnete Peter Reichensperger in der 24. Sitzung der Zweiten Kammer des Preußischen Landtags am 12. Februar 1853.

Peter Reichensperger war zusammen mit seinem Bruder August Reichensperger einer der Wegbereiter des politischen Katholizismus in Deutschland. Er gründete die Gruppe der katholischen Abgeordneten im Preußischen Landtag mit und später dann auch die Zentrumspartei. In der Debatte ging es um die Stellung der Katholiken in Preußen, denen mit dem Schlagwort Ultramontanismus (nach lateinisch ultramontanus, "jenseits der Berge" – gemeint waren die Alpen) unterstellt wurde, sie wären eher loyal zu Rom als zu Berlin. Als Reichensperger das Wort Unrechtsstaat benutzte, was das eine rhetorische Volte. Er wolle damit andeuten, dass Preußen ein solcher würde, wenn es die Rechte seiner katholischen Untertanen beschneidet.

 Relikt eines Unrechtsstaats? Das ehemalige Stasi-Gefängnis in der Andreasstraße im Zentrum Erfurts ist heute eine Gedenkstätte. In der Nähe residiert demnächst vielleicht der erste Linkspartei-Ministerpräsident Relikt eines Unrechtsstaats? Das ehemalige Stasi-Gefängnis in der Andreasstraße im Zentrum Erfurts ist heute eine Gedenkstätte. In der Nähe residiert demnächst vielleicht der erste Linkspartei-Ministerpräsident
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Einiges spricht dafür, dass Reichensperger der Schöpfer des Begriffs ist. Er war Richter, wie auch schon sein Vater einer gewesen war. Als Rheinländer hing er einer vom "Code Napoléon", dem von Napoleon geschaffenen bürgerlichen Gesetzbuch, geprägten Rechtstradition an. Nach ihm hat erst einmal jahrzehntelang niemand mehr das Wort gebraucht. Erst 1879 heißt es im 35. Band der "Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft", dass ein Staat, der die Rechtsordnung herstellt und heilig hält, in der historischen Perspektive der stärkere wird: "Der Unrechtsstaat verkommt. Die Beugung des Rechts findet eben selbst ihr Gericht in der Machtauslese der politischen Geschichte."

Auffällig ist, dass beide Frühbelege in engen Gegenüberstellungen mit dem Wort Rechtsstaat stehen. Man sucht nach dem Gegenteil und landet naheliegenderweise beim Unrechtsstaat. Man nennt solche aus dem Stilwillen und dem rhetorischen Überzeugungsdrang geborenen Wortschöpfungen, die noch nicht im Wörterbuch stehen, Augenblicksbildungen. Um eine solche handelt es sich vermutlich auch noch bei dem großen protestantischen Theologen und Historiker Adolf von Harnack, der 1900 in seinen Vorlesungen "Das Wesen des Christentums" schreibt: "Die Kirche aber, die wie ein irdischer Staat auftritt, muss alle Mittel desselben, also auch verschlagene Diplomatie und Gewalt, brauchen; denn der irdische Staat, selbst der Rechtsstaat, muss unter Umständen zum Unrechtsstaat werden."

 

Karriere macht das Wort nach 1945

Doch um die letzte Jahrhundertwende wurde Unrechtsstaat nachweisbar allmählich häufiger. Offenbar wendeten es jetzt auch Linke als Kampfwort gegen das Kaiserreich. Der Schriftsteller Otto Leixner von Grünberg zitiert es in seinen 1891 erschienenen "Sozialen Briefen aus Berlin. Unter besonderer Berücksichtigung der sozialdemokratischen Strömungen" als einen Ausdruck, den "Wühler" gebrauchen. Er beschreibt die Schwierigkeiten, solche Menschen gerichtlich zu belangen: "Die Gerichtsverhandlungen konnten bei der Art der Organisation nichts zutage fördern, umso weniger, da der Meineid dem ,Unrechtsstaat' gegenüber als notwendiges Kampfmittel betrachtet wird." Und Maximilian Harden schreibt 1911 über den französischen sozialistischen Politiker Aristide Briand, "der dem Unrechtsstaat Todfeindschaft geschworen hat, die Kapitalistenrepublik durch Massengewalt aus den Angeln heben will."

Ein echte Karriere hat das Wort aber erst nach 1945 gemacht. Die Literatur und die juristischen Debatten der Nachkriegszeit sind voll davon. 1947 wird etwa gleich im allerersten Band der "Neuen juristischen Wochenschrift" überlegt, wie mit Verbrechen umgegangen werden soll, die nach den Gesetzen der Nazizeit völlig legal waren. Der Autor kommt zum Schluss: "Wenn auf einen Unrechtsstaat wieder ein Rechtsstaat folgen soll, dann kann das Gebot der Gerechtigkeit, schreiendes Unrecht nachträglich zu sühnen, stärker sein als das im Grundsatz nulla poena sine lege verkörperte Gut der Rechtssicherheit." Dieser Satz bezog sich damals unter anderem auf den 1945 im Völkerrecht eingeführten und in den Nürnberger Prozessen angewandten Straftatbestand "Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Heute ließe er sich allen entgegenhalten, die von einer Siegerjustiz der Bundesrepublik gegenüber DDR-Mauerschützen und anderen Verbrechern reden.

 Dass Roland Freislers Volksgerichtshof in einem Unrechtsstaat Urteile fällte, wird allgemein nicht bestritten. Umso empfindlicher reagieren Kommunisten auf Vergleiche der beiden Systeme Dass Roland Freislers Volksgerichtshof in einem Unrechtsstaat Urteile fällte, wird allgemein nicht bestritten. Umso empfindlicher reagieren Kommunisten auf Vergleiche der beiden Systeme
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Sehr schön passt zur aktuellen Debatte auch der Satz, den der spätere "Welt"-Feuilletonchef Hans Eberhard Friedrich 1948 in der Zeitschrift "Prisma" schrieb: "Wo die Polizei die Vormacht hat, wo die Politik sich auf sie stützt und sich ihrer zur Wahrung von Ruhe und Ordnung bedient, wo das Recht nur den Büttel der Polizei spielt, dort ist ein Unrechtsstaat, die Diktatur herrscht." Friedrich war übrigens Staatsrechtler, also ein Jurist – wie die große Mehrheit der bisher zitierten Autoren. Damit wird der in der aktuellen Debatte gelegentlich erhobene Vorwurf ad absurdum geführt, Unrechtsstaat sei ein polemisch-unscharfer, der strengen juristischen Begriffsbildung komplett entgegengesetzter Begriff.

Wegen gewisser auffälliger Ähnlichkeiten zwischen dem braunen und dem roten System wurde dann auch die 1949 gegründete DDR im Westen als Unrechtsstaat bezeichnet. Pikanterweise redeten so zuallererst Mitglieder jener Partei, die sich jetzt in Thüringen möglicherweise zum Steigbügelhalter des ersten Linke-Ministerpräsidenten machen könnte. In den Protokollen des Parteitags der SPD 1956 steht: "Es besteht gar kein Zweifel, und es darf kein Zweifel daran bestehen, dass wir in der Regierung der DDR eine Unrechtsregierung, einen Unrechtsstaat sehen." Der Geist des vier Jahre zuvor gestorbenen Kurt Schumacher war noch sehr lebendig.

Seit 161 Jahren nennen Juristen Unrechtsstaaten Unrechtsstaaten, und ebenso lange schon gefällt das denjenigen nicht, die das Unrecht relativieren wollen.

1960 wird dann – um nur eines der vielen sich häufenden Beispiele zu nennen – in einer Gerichtsreportage der "Zeit" ein Richter mit dem Satz zitiert: "Wenn man im umgekehrten Fall drüben sagt: 'Wir bestrafen eine Unterschlagung in der Bundesrepublik nicht, es sind ja nur Kapitalisten geschädigt worden, ein Bürger hat sich eigentlich nur das genommen, was ihm gehört' – so ist das die Auffassung eines Unrechtsstaates, Bei uns gilt das Recht." Es ging übrigens um eine HO-Filialleiterin, die vor ihrer Flucht in den Westen Geld aus der Kasse genommen hatte und dafür in Köln verurteilt wurde. Sie konnte es nicht fassen, denn der Laden hatte früher ihr gehört: "Eigentlich war das doch mein Geld …"

Solche Belegstellen widerlegen einige Behauptungen des Juristen und Politikers (SED, später PDS und Linkspartei) Uwe-Jens Heuer, der sich 2011 an einer Begriffsgeschichte von Unrechtsstaat versucht hatte. In Heuers Aufsatz heißt es: "So inflationär der Gebrauch des Wortes Unrechtsstaat seit 1990 wurde und bis heute ist, so selten war es vorher gebraucht worden, und zwar weder für den NS-Staat noch für die DDR." Seiner Einschätzung nach "verbot" sich die Abwertung des Vorgängerstaats als Unrechtsstaat durch westdeutsche Juristen, weil viele von ihnen bereits dem Naziregime gedient hätten. Diese personelle Kontinuität hat zweifellos existiert, aber die Behauptung, deswegen habe niemand den NS-Staat einen Unrechtsstaat genannt, ist nachweislich Quatsch. Seit 161 Jahren nennen Juristen Unrechtsstaaten Unrechtsstaaten, und ebenso lange schon gefällt das denjenigen nicht, die das Unrecht relativieren wollen.

 

Der aktuelle Streit begann mit der Wiedereinigung

Dem Aufsatz Heuers lässt sich auch entnehmen, dass der Streit darüber, ob die DDR ein Unrechtsstaat gewesen sei, gleich nach der Wiedervereinigung begann. Der Mann, der von 1990 bis 1998 für die PDS im Bundestag saß, empört sich: "Als ich in einer meiner ersten Reden am 28. Februar 1991 die Charakterisierung der DDR als Unrechtsstaat und die damit verbundene ,Gleichsetzung mit der Nazi-Justiz' kritisierte, wobei ich ,erhebliche rechtsstaatliche Defizite' anerkannte, bekam ich aus den Reihen der CDU/CSU sofort zu hören: ,Das war ein Unrechtsstaat' und ,Er hat immer noch nicht gebrochen mit seiner Vergangenheit.'"

 An sie dachte Kurt Schumacher, als er die Kommunisten „rot lackierte Faschisten“ nannte: Die Richterin und Justizministerin Hilde Benjamin war der Inbegriff der Klassenjustiz in der frühen DDR An sie dachte Kurt Schumacher, als er die Kommunisten "rot lackierte Faschisten" nannte: Die Richterin und Justizministerin Hilde Benjamin war der Inbegriff der Klassenjustiz in der frühen DDR
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Der 2011 gestorbene Heuer wäre vermutlich begeistert gewesen von einem jetzt im Deutschlandradio gesendeten Kommentar, in dem ein SWR-Redakteur namens Claus Heinrich sagte: "Das Wort Unrechtsstaat ist kein juristischer und kein politologischer Fachterminus, sondern ein Kampfbegriff aus dem Arsenal des Kalten Krieges. Er ist ebenso schillernd wie nicht eindeutig. Letztlich geht es darum, die autoritären DDR-Sozialisten mit den Massenmördern der NS-Diktatur gleichzusetzen. Die SED als rot lackierte Nazi-Partei sozusagen."

Dem ließe sich verschiedenes erwidern: Beispielsweise, dass die Abwertung der Kommunisten als "rot lackierte Faschisten" von Kurt Schumacher stammt, einem Mann, der für seine demokratischen Überzeugungen mehr riskiert hat als jeder öffentlich-rechtliche Medienbeamte. Man könnte auch darauf hinweisen, dass wir heute viele Begriffe des Kalten Krieges immer noch gebrauchen, weil sie die Sache nun mal am treffendsten beschreiben und weil ihre Wahrheit nach 1989 noch viel sichtbarer geworden ist. Nach Heuers Logik wäre jetzt auch der Zeitpunkt gekommen, die Mauer oder gleich ganz den Eisernen Vorhang wieder in Antifaschistischer Schutzwall umzubenennen.

Und was das angeblich "Schillernde" des Ausdrucks Unrechtsstaat betrifft, so zeigt der Ausflug in die Wortgeschichte, dass Generationen von Juristen sich bemüht haben, ihn terminologisch zu schärfen. Man muss das nur zur Kenntnis nehmen. Aber daran haben die Schönredner der DDR logischerweise kein Interesse.