Dr. Heino Falcke hielt diese Rede bei einem Festakt im Erfurter Rathaus, in dem der Erfurter Oberbürgermeister Andreas Bausewein den Mut der Bürgerinnen und Bürger, die 1989 die friedliche Revolution in Erfurt mit getragen haben, würdigte. Stellvertretend trugen sich 15 in das Goldene Buch der Stadt Erfurt ein, darunter 7 Mitglieder der Gesellschaft für Zeitgeschichte.

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Rede bei der Festveranstaltung der Stadt Erfurt

anlässlich der Ehrung von Akteuren der Friedlichen Revolution 1989/90 am 9. November 2009

von Heino Falcke

 

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, sehr geehrte, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

„O, the wall is broken!“ so riefen südafrikanische Studenten aus, als meine Frau und ich 1996 fern im südafrikanischen Buschland eine Sitzung der Wahrheits- und Versöhnungskommission besuchten. Wir hatten uns ihnen als Deutsche, als Ostdeutsche vorgestellt und man spürte ihre Zustimmung und Mitfreude als sie spontan reagierten: O ja, die Mauer ist gefallen!

Ich erzähle Ihnen das nicht, um ein Reiseerlebnis auszuplaudern. Unsere Freude an dem Fall der Mauer, dessen wir heute gedenken, wird so gar von jungen Leuten auf der anderen Seite des Globus geteilt. Mehr noch: Wir stehen bei diesem Gedenken in der europäischen Gemeinschaft. Die Polen gingen mit Solidarnosz voran. Die Ungarn öffneten den Zaun. Die Tschechen öffneten den Weg aus der Prager Botschaft. Gewiss: Die Thatcher-Regierung war ziemlich eisern gegen ein vereinigtes Deutschland  und die Franzosen sagten es mit ihrem Charme: „Wir lieben Deutschland so, dass wir gern zwei davon behielten.“ Aber in den Zwei-plus vier-Verhandlungen waren sie alle dabei. Voran gingen die USA und die Sowjetunion, unterderen Hegemoniekonflikt wir noch in den achtziger Jahren fürchten mussten, begraben zu werden. Diesen deutschen Gedenktag feiern wir - anders als leider viel zu oft in unserer  Geschichte -  gegen niemanden aber mit vielen. Wir sind froh darüber, ohne Mauern und Zäune zu den Völkern Europas dazu zu gehören. Ich finde, diese größere Einheit  macht die Überwindung der deutschen Trennung zu einem wirklichen Freudentag.

Ich gestehe, dass ich 1989 zu denen gehörte, deren Freude an dem Fall der Mauer mit erheblichen Bedenken und Sorgen durchmischt war. Was werden die Russen und die Polen sagen? Wird die Selbstbefreiung der Ostdeutschen in einen neuen deutschen Nationalismus umschlagen? Werden unsere Nachbarn erneut Angst bekommen vor diesen etwas  unheimlichen Erfolgsdeutschen?  Diese Sorgen haben sich nicht bestätigt. Es gab und gibt zwar Ausbrüche von Chauvinismus und Rechtsradikalismus, aber das spontane Volksfest auf der Mauer war kein nationalistischer Exzess und die Politik des vereinten Deutschland keine großdeutsche Machtpolitik.

Können wir also an diesem 9. November einmal nur das Erfreuliche  erinnern, den 9. November 1938 aber weglassen oder in den Hintergrund schieben und den 1. September 1939, der sich zum siebzigsten Mal jährte, gleich mit? In Erfurt wurde Ende Oktober die Ausstellung in der alten Synagoge eröffnet, die uns das kulturelle Erbe und den Leidensweg der Juden in Deutschland zeigt. Und heute wurden die ersten Denknadeln an die verfolgten und ermordeten Erfurter Juden gesetzt. Das ist gut so!

Meine Damen und Herrn, wir können die Sonnenseite der deutschen Geschichte nicht ohne die Schattenseite haben. Das ist die Lehre, die  dieser Tag, der neunte November, uns Deutschen  jedes Jahr neu erteilt. Die Pogromnacht 1938, als das barbarische Gesicht der Nazi-Herrschaft  unübersehbar an den Tag, oder vielmehr an die Nacht kam, und der Mauerfall 1989 mit den tanzenden jungen Leuten auf der Mauerkrone: Beide Bilder in ihrem ungeheuren Kontrast stehen an diesem Tag untrennbar nebeneinander, schieben sich ineinander und beiden müssen wir uns stellen. Nur so wächst unter uns ein reifes Nationalbewusstsein. In ihm  verbindet sich das ja zu uns selbst mit kritischer Selbstprüfung und so wird es ein starkes, ein gelassenes und verlässliches Ja.

Wenn wir  den Mauerfall in diesem Zusammenhang sehen, kommt er erst wirklich zum Leuchten. Er gehört ja in den geschichtlichen Zusammenhang der Nachkriegs-Geschichte. Er war der erste Schritt zur Vereinigung Deutschlands, mit der die Nachkriegsgeschichte endete.

Vergegenwärtigen wir uns die Verbrechen und unsäglichen Tragödien des Krieges, wie er dann auf uns zurückschlug, wie die Siegermächte auf den Konferenzen von Yalta und Potsdam die Grenze durch Deutschland und Europa zogen, die dann zum eisernen Vorhang und durch die SED in Deutschland zur Mauer wurde. Und dann fiel diese Mauer und mit den Siegermächten und unter Zustimmung der überfallenen Nachbarvölker wurde die Vereinigung Deutschlands beschlossen. So glücklich endete für uns Deutsche die Geschichte, an deren Anfang der 9. November 1938 und der 1. September 1939 standen! Ein erstaunliches, unglaubliches Geschenk und Geschichtswunder!

Meine Damen und Herrn,

Wir sprechen von dem Mauerfall vor 20 Jahren. Ja, ist sie denn von selbst gefallen? Ja fast! Der Mauerfall gehört zur Implosion des SED-Regimes, das in sich zusammenfiel. Das verwirrte Stottern des Herrn Schabowski war ein sprechendes Symbol dafür. Ja, aber dann kamen am Abend des Neunten die vielen, vielen Menschen, vor denen die Grenzer rat- und hilflos wurden.  Das wäre nie möglich gewesen, wenn nicht der 9. Oktober in Leipzig vorangegangen wäre, und der 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz mit dem Witz seiner Plakate und dem freien Geist seiner Reden, und - für uns Erfurter füge ich hinzu - den 26. und 28. Oktober in Erfurt. Die Mauer wurde aufgebrochen durch den Aufbruch aus der Zivilgesellschaft in den Städten und Dörfern,  für den der 9.Oktober in Leipzig das große Symbol geworden ist, das Symbol für die Selbstbefreiung des Volkes, für die Zivilcourage, die das Untertansein abschüttelt, allein mit Kerzen und dem Wort gegen die hochbewaffnete Staatsmacht angeht. „Wir sind das Volk!“, dieser urdemokratischen Satz, - wie er auch gemeint sein mochte - deutete, was da geschah: Dies war der Aufbruch zu einer Demokratie, in der das Volk das Subjekt der Politik, wirklich „der Souverän“ ist.

Dieser demokratische Aufbruch von unten hat es dann allererst möglich gemacht, dass die hohe Politik das Ruder übernehmen und die Vereinigung Deutschlands herbeiführen konnte. Diese Vereinigung  hatten freilich die Revolutionäre des September und Oktober überhaupt nicht im Blick. Aber es lag in der inneren Dynamik der Selbstbefreiung des Volkes, dass sie das monströseste Symbol der Unfreiheit, die Mauer, die Selbstschussanlagen, den Schießbefehl, den Tränenpalast an der Friedrichstraße angreifen und abreißen musste.

Es gibt in der Geschichte Ereignisse von einer Symbolkraft, die über den geschichtlichen Augenblick hinaus inspirierende, erneuernde aber auch verpflichtende Kraft haben. Die demokratischen Aufbrüche aus der Zivilgesellschaft, die damals  ganz Osteuropa ergriffen, gehören dazu. Sie zeigen uns, was Demokratie eigentlich ist, woraus Demokratie eigentlich lebt und sich immer wieder erneuern kann und muss.

Wir gedenken am 9. November ja auch des 9. November 1918, der Ausrufung der ersten deutschen Republik und parlamentarischen Demokratie. Wir wissen, wie gefährdet die Weimarer Demokratie war, weil sie von breiten Schichten rechts und von radikal-links abgelehnt wurde,  und wie sie - geschwächt durch  Weltwirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit -  zum Opfer der Nazidiktatur wurde. Lassen wir uns also durch den 9. November an unsere Verantwortung für die Demokratie erinnern. Sie lebt von der aktiven politischen Beteiligung der Bürger. Was aber wenn der schlichteste Akt dieser Beteiligung, die Wahlbeteiligung, unter fünfzig Prozent sinkt und sechzig Prozent schon als gut gelten! Ich will jetzt nicht in die Schelte des Wähler- bzw. Nichtwählerverhaltens einstimmen. Es ist verbreitet und ebenso wohlfeil wie nutzlos. Wir müssen schon zur Kritik an den Verhältnissen weitergehen, die dieses Verhalten hervorbringen.

 Armut, die unter uns wächst, bedeutet nach dem Konsens heutiger Sozialwissenschaften nicht nur materiellen Mangel sondern Mangel an  Beteiligungschancen, Armut bedeutet Ausschluss. Dabei reden wir nicht von einigen zehntausend unglücklicher Existenzen, sondern von Millionen von Ausgeschlossenen: Kinder in Verhältnissen, wo es für keine schicken Klamotten, keine Fußballschuhe und keinen Schulausflug reicht, junge Leute ohne Hauptschulabschluss, die sich mit Gelegenheitsjobs zufrieden geben müssen, Frauen und Männer mittleren Alters, die „freigesetzt“ wurden und keine Aussicht auf Wiederbeschäftigung haben, Minijobber und HartzIV-Aufstocker, denen es kaum zum Leben reicht, verschämte alte Leute, die sich in ihre Zweizimmerwohnung zurückgezogen haben. Gemeinsam ist ihnen, dass sie für sich keine Perspektive mehr sehen und zu der Überzeugung gelangt sind, dass es auf sie nicht mehr ankommt und  auch nicht auf ihre Stimme. ( So beschreibt dies Heinz Bude in seinem neuen Buch „Die Ausgeschlossenen“ ).

Und weiter: Wenn keinem normalen Wählerverstand begreiflich zu machen ist, wie man einen schwindelhaft hoch verschuldeten Staat durch Steuersenkungen finanziell noch mehr schwächen wollen kann,  wenn der Verdacht steigt, dass hinter „mehr Netto von Brutto“ brutale Gegenfinanzierungen und Sparmaßnahmen lauern,  und wenn bei keiner Partei ein wirklicher Neubeginn nach der Finanz- und in der Klimakrise erkennbar ist, dagegen aber eine Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken beschlossen wird, obwohl  die Ungelöstheit der Entsorgungsprobleme gerade enthüllt wurde: wundern wir uns dann über Wahlverweigerung aus Skepsis und Protest? Durchsichtiger und durchschaubarer müsste unsere Politik werden, um Wähler zu motivieren und die Demokratie im Volk einzuwurzeln. Ich bin nicht für Parteiprogramme, die auf einen Bierdeckel passen. Aber es müsste klar und verlässlich werden, wofür Parteien stehen. Und wenn die aktive demokratische Verantwortung auf die Straße geht, dann sollten wir ihr nicht mit negativen Vorurteilen begegnen, sondern uns an 1989 erinnern, als Christoph Hein von der „Vernunft der Straße“ sprach.

 

Meine Damen und Herrn,

neben dem Portal unseres Rathauses findet sich eine Tafel mit der Aufschrift „Erfurt, Ort der Vielfalt“. Ich gratuliere unserer Stadt, dass sie durch das Bundesfamilienministerium mit diesem Titel ausgezeichnet wurde.  Er  wurde ihr verliehen für „ihr beispielhaftes Engagement im Kampf gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Gewalt.“

Ich lebe gern in dieser bunt gewordenen Stadt mit ihrer Vielfalt aus West- und Ostdeutschen, Juden und Christen und einigen Muslimen, sprachbemühten Immigranten und sprachmelodiösen Thüringern, mit ihren Professoren, Marktfrauen, Studierenden  und Bratwurstständen!

Vielfalt, meine Damen und Herrn, ist eine notwendige Interpretation der deutschen Einheit. Mein Freund Gerhard Rein in Berlin sagt sogar pointiert: „Ich will nicht Einheit, ich will Vielfalt in Freiheit.“ In der Tat: Wir kommen aus einer Einheitsgesellschaft in einem Einheitsstaat, regiert von einer  Einheitspartei. Solche Einheit wollen wir nicht! Wir wollen ein geeintes Deutschland, in dem sich Vielfalt ent-falten kann, in dem sich die anders Denkenden, anders Glaubenden und anders Lebenden mit Respekt, Offenheit und Neugier begegnen, wo um die Wahrheit in öffentlicher Auseinandersetzung gestritten werden kann, wo Fremde heimisch werden oder doch Gastrecht genießen können, wo nach der gefallenen Mauer eben nicht neue Mauern gebaut und neue Scheuklappen aufgesetzt werden. Einen gelingenden Pluralismus brauchen wir. „Einigkeit und Recht und Freiheit“!

Nicht wahr, wir Ostdeutschen hatten damit Schwierigkeiten.  Die Vielfalt war verwirrend,  welche der gegensätzlichen Meinungen hat recht? Die Nische der Gleichgesinnten war kein Ausweg. Jetzt, nach zwanzig Jahren sollte die Angst vor dem Fremden weichen, die Freude an den Wegen ins Offene wachsen! Juden, Christen und Muslime sollten es lernen, miteinander über ihren Glauben zu reden, auf gleicher Augenhöhe, in der Demut vor Gott, die jede Religion gebietet, in der Freude am eigenen Glauben, der sich gern mitteilt. Ort der Vielfalt, Land der Vielfalt, das ist die gute Perspektive einer Einheit, die den Mief  der Gleichförmigkeit und Selbstbestätigung, die Angst vor den anderen und Fremden, den Muff jeglicher Selbsteinmauerung hinter sich lässt.

Erlauben Sie mir, noch einen letzten Hinweis.

 Vor zwanzig Jahren, als die Mauer gefallen war, wurde der Gedanke des „grünen Bandes“ geboren. Der Bund für Umwelt und Naturschutz und das Land Thüringen übernahmen ihn. Von Hof bis zur Ostsee sollte das grüne Band reichen. Michael Gorbatschow hat die Schirmherrschaft übernommen. Darüber hinaus wurde 2004  in Ungarn beschlossen, es solle ein europäisches grünes Band vom Nordkap bis zum Mittelmeer werden. In Brüssel und vielen Basisinitiativen arbeitet man daran. Wo die Grenze mit ihrem Todesstreifen stand, sind seit 1961 Biotope unberührter Natur und unverletzten Lebens entstanden. Sie sollen erhalten werden. Sie brauchen unsere Spenden.  Es gibt kein schöneres Denkmal des Mauerfalls und der deutschen Vereinigung. Was soll das Denkmal, das man in Berlin bauen will, wo wir dieses haben! Statt Schnittblumen an solchem Denkmal niederzulegen, sollten die Staatsoberhäupter zu einem Spaziergang an dem blühenden grünen Band eingeladen werden. Und dadurch inspiriert sollten sie darüber beraten, wie er nun endlich zu schaffen ist, der Umstieg in eine ökologisch nachhaltige Technologie und Wirtschaft, in ein zukunftsfähiges Wirtschaftswachstum, das dem  grünen Band entspricht.

Niemand hat dieses grüne Band  gebaut. Es ist dort gewachsen, fast ein halbes Jahrhundert lang, wie ein stiller, aber starker Protest des Lebens gegen Trennung und Tod, von Menschen dort angerichtet. Ich als Christ denke dabei an die Josephsgeschichte der hebräischen Bibel. Sie schließt mit folgenden Worten: „Die Menschen gedachten es böse zu machen, Gott aber gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“ ( 1. Mose 50, 20 )

Meine Damen und Herrn, im geänderten Grundgesetz steht. „Das deutsche Volk hat die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet.“ Das gilt im staats- und verfassungsrechtlichen Sinn und dafür sind wir dankbar. In unserer Gesellschaft und Lebenswelt aber  sind Einheit und Freiheit keineswegs vollendet. Beide sind ein Weg und wir sehen nüchtern, dass schwierige Wegstrecken vor uns liegen. Wir feiern heute keine Vollendung, sondern eine Station auf diesem Wege. Ich wünsche uns einen guten Weg.

           Ich danke Ihnen.