Mit lautem Donner zu kurz gesprungen

 Die 8. Novelle des Stasi-Unterlagen-Gesetzes

Johannes Beleites

Studienleiter, Evangelische Akademie Thüringen, Neudietendorf.

I.

Eigentlich ist es fast schon Routine. Alle paar Jahre geistert durch die Presse, dass das Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) zum Jahresende auslaufe, es sei denn, der Bundestag sorge für eine Verlängerung. Auch in diesem Jahr konnte man diese Behauptung wiederholt finden, richtiger wurde sie dadurch keineswegs. Das StUG gilt natürlich auch über das Jahresende hinaus, es drohte ab 2012 weder die Vernichtung der Stasi-Akten noch die Auflösung der Gauck-/Birthler-/Jahn-Behörde. Einzig und allein die Möglichkeit der Überprüfung von Beamten und Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes auf eine eventuelle frühere MfS-Tätigkeit ist befristet – hier steht regelmäßig eine Verlängerung an. Diese Verlängerung ist dann stets ein wenig umstritten, weniger hinsichtlich der neuen Frist als vielmehr hinsichtlich der Größe der überprüfbaren Personengruppen.

 

Der Prozess einer Gesetzesnovellierung bietet gleichzeitig auch immer die Chance, einige andere Korrekturen und Richtungsänderungen an einem insgesamt noch immer ebenso beispiellosen wie grundsätzlich wegweisenden Aufarbeitungsgesetz anzubringen. Schließlich hatte Anfang der Neunzigerjahre niemand geglaubt, dass sich dieser Prozess der Aufarbeitung mit all seinen Teilgebieten wie der Überprüfung auf frühere Stasi-Tätigkeit, der Akteneinsicht von Betroffenen des Stasi-Unwesens, der wissenschaftlichen und öffentlichen Aufarbeitung, aber auch der schlichten archivischen Sicherung und Erschließung der Unterlagen als Grundlage für die vorgenannten Aktivitäten über mehrere Jahrzehnte ausdehnen würde. Richtungsänderungen lagen beispielsweise in der Streichung von § 14 StUG, der die endgültige und physische Vernichtung von Unterlagen auf Antrag Betroffener zuließ, in der moderaten Lockerung der Zweckbindung in § 32 StUG, wonach inzwischen nicht mehr allein die Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes, sondern auch schon die der DDR-Herrschaftsmechanismen als Begründung für einen Aktenzugang ausreicht, oder in der Einführung der Benachrichtigung von Betroffenen vor der Akteneinsicht durch Wissenschaftler gemäß § 32 a StUG.

 

Entscheidend für die Schwerpunktsetzung einer solchen Novellierungsdiskussion sind die Themen, die zuvor den Weg über das unmittelbare Fachpublikum hinaus in die Öffentlichkeit gefunden haben. Die langwierige Auseinandersetzung zwischen Altbundeskanzler Helmut Kohl und der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU) beförderte von den späten Neunzigerjahren bis 2003 ganz nebenbei das öffentliche Interesse am Umgang mit den Stasi-Unterlagen, an den Fragen, welche Rechte die Presse und die Forschung einerseits und die in den Unterlagen genannten Personen andererseits haben. In diesem Zusammenhang konnte sich auch Kritik an der Arbeitsweise der Stasi-Unterlagen-Behörde hinsichtlich der zögerlichen Aktenerschließung, der Vorenthaltung archivüblicher Findhilfsmittel sowie der gravierenden Ungleichbehandlung von behördeninternen und -externen Wissenschaftlern artikulieren. Seit der letzten StUG-Novelle von 2006 und des dort in § 32 Abs. 1 Nr. 7 eingeführten erleichterten Zugangs für behördenexterne Wissenschaftler sowie größerem Entgegenkommen bei der Recherche seitens des BStU scheinen sich diese Probleme aber deutlich verkleinert zu haben.[1] Inzwischen geht es um die Feinheiten einer solchen Regelung, um Differenzen zum Archiv-, Datenschutz- und Informationsfreiheitsrecht. Die Materie entzieht sich damit immer weiter der öffentlichen Aufarbeitungsdebatte und ist allenfalls noch für das juristische Seminar oder einen engen Fachdiskurs geeignet. Wer möchte schon in einer Tageszeitung – um nur eines der einfacheren Beispiele zu nennen – einen Artikel über unterschiedliche Normadressaten bei der Akteneinsicht, der Herausgabe und der Veröffentlichung nach § 32 StUG und den daraus notwendig folgenden Unterschieden in der behördlich zu erfolgenden Grundrechtsabwägung lesen?

 

II.

Den Einstieg in die aktuelle Novellierungsdiskussion bildeten daher auch die medienwirksamen Stasi-Enttarnungen im Brandenburger Landtag zu Beginn der rot-roten Koalition im vergangenen Jahr. Es folgten weitere Enttarnungen von früheren Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Brandenburgs Polizei sowie eine Diskussion über die bisherige Brandenburger Überprüfungspraxis. Nachdem das RBB-Magazin "Klartext" die Stasi-Tätigkeit mehrerer Polizisten aufdeckte, beklagte sich der zuständige Innenminister darüber, dass er – im Gegensatz zur Presse – beim BStU keine Einsicht in die Stasi-Unterlagen nehmen dürfe. Man müsse sich mit Screenshots aus Fernsehbeiträgen behelfen, das sei doch geradezu absurd. Der neue Bundesbeauftragte Roland Jahn hingegen berief sich auf das Stasi-Unterlagen-Gesetz, wonach seit 2006 nur noch Behördenleiter überprüft werden dürften (§§ 20 und 21, jeweils Abs. 1 Nr. 6 d StUG bisherige Fassung). Seither war vermutlich auch vielen Bundestagsabgeordneten klar, dass hier akuter Handlungsbedarf bestand.

 

Ein Nebenschauplatz rückte jedoch seit Frühjahr ins Zentrum des öffentlichen Interesses: Roland Jahn hatte bei seiner Amtseinführung erklärt, dass die Tätigkeit früherer Stasi-Mitarbeiter in seiner Behörde "ein Schlag ins Gesicht der Opfer" bedeute und dass er sie als unerträglich empfinde. Die Tatsache dieser früheren MfS-Mitarbeiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde war seit längerem bekannt; das wahre Ausmaß wurde im Jahr 2007 durch ein von Kulturstaatsminister Bernd Neumann in Auftrag gegebenes Gutachten des Forschungsverbundes SED-Staat deutlich.


Jahns Vorgängerin Marianne Birthler hatte sich von der Einstellung dieser Mitarbeiter unter ihrem Vorgänger Joachim Gauck distanziert, sah aber ohne das Entgegenkommen anderer Bundesbehörden sowie der betroffenen Mitarbeiter selbst keine arbeitsrechtliche Möglichkeit für eine dauerhafte Versetzung. Gewissermaßen zähneknirschend stellte Birthler hier ihre Fürsorgepflicht auch für diese spezielle Gruppe ihrer Mitarbeiter in den Vordergrund, vermutlich auch im Bewusstsein, dass es weit größere und dringlichere Probleme in der Behörde gab. Roland Jahn wirkte entschlossen, sich nicht damit abfinden zu wollen. "Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg", erklärte er und gab bei dem Berliner Medienrechtsanwalt Johannes Weberling ein juristisches Gutachten in Auftrag. Das allerdings fiel ernüchternd aus und zeigte lediglich den Weg über eine entsprechende Änderung des StUG auf.

 

Damit waren die beiden Hauptthemen vorgegeben: Die Verlängerung und Erweiterung der Überprüfungsmöglichkeiten im öffentlichen Dienst und die Entfernung der knapp 50 früheren Stasi-Mitarbeiter aus dem Dienst beim BStU. Zwar lud der federführende Kulturausschuss des Bundestags noch zu einer Sachverständigen-Anhörung, doch konnten sich die dort vorgetragenen Argumente nur sehr bedingt in der Novellierung durchsetzen.[2]

 

III

Was wurde nun neu bzw. anders geregelt? Die Liste ist überschaubar. Zunächst gibt es kleinere Erweiterungen hinsichtlich der regulären Aktenverwendung. Das betrifft den Zugang zu Unterlagen Verstorbener zugunsten naher Angehöriger (§ 15 StUG) sowie zugunsten der Forschung, der Presse und der politischen Bildung (§ 32 Abs. 1 Nr. 6 StUG bezüglich der Akteneinsicht bzw. ebd. Abs. 3 Nr. 5 bezüglich der Veröffentlichung). Eine weitere Öffnung der Unterlagen fand dahingehend statt, dass "Unterlagen, die nicht gezielt zu natürlichen Personen angelegt worden sind" nun auch, "soweit sie keine überwiegend schutzwürdigen personenbezogenen Informationen enthalten" (§ 26 Abs. 2 StUG) wie sonstiges normatives MfS-Schriftgut (beispielsweise Dienstanweisungen, Richtlinien oder Pläne) behandelt werden können. Schließlich wurden die Stasi-Landesbeauftragten hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit Hochschulen und anderen Forschungseinrichtungen gleichgestellt und können damit einen erleichterten Zugang zu personenbezogenen Informationen in Stasi-Unterlagen erhalten (§ 32 Abs. 1 Nr. 7 a StUG).

 

Natürlich bedeutet auch ein anderer Bereich eine erhebliche Ausweitung der Aktennutzung: Die Veränderungen in den §§ 20 und 21 StUG vergrößern die Gruppe jener erheblich, die auf eine frühere MfS-Mitarbeit überprüft werden können: Neu hinzu gekommen sind ehrenamtliche Bürgermeister (§§ 20 bzw. 21, jeweils Abs. 1 Nr. 6 b StUG), leitende Beschäftigte öffentlicher Stellen ab Einstufung A9 bzw. E9, öffentlich bestellte Mitglieder in Vertretungs- bzw. Aufsichtsorganen sowie bei begründetem Verdacht alle Beschäftigten des öffentlichen Dienstes (ebd. Nr. 6 d), Soldaten in leitender Funktion ab Besoldung A13 (ebd. Nr. 6f), sämtliche Bewerber um ein öffentliches Amt bzw. Mandat (ebd. Nr. 6 h) sowie ehrenamtliche Mitarbeiter und Gremienmitglieder in Aufarbeitungsinstitutionen zur SED-Diktatur (ebd. Nr. 7 e).

 

Schließlich wird in einem neuen § 37 a StUG ein Beschäftigungsverbot von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes in der Stasi-Unterlagen-Behörde ausgesprochen. Das gilt für künftige Einstellungen ohne Einschränkung; schon bekannte bzw. als solche gezielt eingestellte frühere MfS-Mitarbeiter sollen innerhalb der Bundesverwaltung versetzt werden, sofern "ihnen dies im Einzelfall zumutbar" sei.

 

Diese letztgenannte Regelung betrifft von allen Neuerungen die kleinste Gruppe und erhielt gerade deshalb die größte öffentliche Aufmerksamkeit. Natürlich hatte Roland Jahn mit seiner Äußerung vollkommen recht: Viele Stasi-Opfer betrachten es zumindest als Instinktlosigkeit, dass sie gerade in der sich selbst gern als Aufarbeitungsbehörde bezeichnenden Institution zu allererst früheren Stasi-Mitarbeitern begegnen. Diese sind nicht als solche erkennbar und verlangen zunächst – quasi in alter Manier – den Personalausweis zu sehen. Auf höhere Weisung, gleichwohl ohne sachlichen Grund, erfassen und registrieren sie dann die Identität und betätigen erst danach den Türöffner. Und nicht wenige Stasi-Opfer erzählten schon den Pförtnern offenherzig von ihrer Repressionsgeschichte. Wenn sie irgendwann erfuhren, wem sie sich da gerade geöffnet haben, wirkte das dann tatsächlich wie ein Schlag ins Gesicht.

 

Aber es kommt noch schlimmer: Diese Wachleute sind nicht zufällig dort gelandet, sondern sie wurden Anfang der Neunzigerjahre als geschlossenes Kollektiv ehemaliger MfS-Personenschützer in der Gauck-Behörde eingestellt. Ihr alter MfS-Dienstvorgesetzter ist auch heute noch ihr Sachgebietsleiter. Natürlich gab es inzwischen eine gewisse Fluktuation: Einige sind aus Altersgründen ausgeschieden, andere sind neu hinzugekommen. Auf letztere trifft der Vorwurf früherer MfS-Mitarbeit daher nicht zu – als Außenstehender weiß man aber gerade nicht, mit wem man es zu tun hat. Man kann sie natürlich fragen – und kommt auf diese Weise mitunter zu ausgesprochen interessanten Zeitzeugengesprächen.

 

Um allen Missverständnissen vorzubeugen: Es gibt keinen sachlichen Grund für die damalige Einstellung früherer Stasi-Mitarbeiter in der Stasi-Unterlagen-Behörde. Zumindest keinen, der die gegen ihre Beschäftigung sprechenden Gründe überwiegt. Sofern es zu irgendeinem Zeitpunkt tatsächlich ihrer Expertise bedurft haben sollte, wäre auch eine befristete oder freie Mitarbeit möglich gewesen.

 

Roland Jahn hat in seiner Antrittsrede dazu das Richtige gesagt – leider aber viel zu spät. Das wäre die Aufgabe von Joachim Gauck gewesen.

 

Dennoch: Der gesetzliche Versuch, sich nachträglich ihrer zu entledigen ist ebenso falsch wie wirkungslos. Möglicherweise offenbart ein sprachlicher Fehler der Norm auch den Denkfehler in dieser Sache: Im neuen § 37 a StUG wird doch tatsächlich "eine Beschäftigung von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes beim Bundesbeauftragten" für "unzulässig" erklärt. Während an vielen Stellen des Gesetzes das Adjektiv "ehemalig" distanzierend, tatsächlich aber sachlich falsch gebraucht wird – es gibt keinen Staatssicherheitsdienst der ehemaligen DDR, sondern allenfalls einen ehemaligen Staatssicherheitsdienst der DDR – fehlt hier jene Kennzeichnung. Denn natürlich arbeiten heute keine Mitarbeiter, sondern lediglich ehemalige Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes beim Bundesbeauftragten. Es gibt ihn nämlich zum Glück nicht mehr, den Staatssicherheitsdienst der DDR! Und in diesem Punkt ist Richard Schröder unbedingt zuzustimmen: Stasi-Mitarbeiter ohne Stasi sind mehr als zwei Jahrzehnte seit dem Untergang ihres früheren Arbeitgebers ungefährlich.[3] Zumindest rührt eine vermeintliche Gefahr nicht mehr aus ihrer früheren Zugehörigkeit zum MfS. Möglicherweise gibt es noch immer Seilschaften, vielleicht auch welche mit krimineller Energie. Aber warum sollen da gerade jene, von denen es jedermann vermutet, gefährlicher sein als beispielsweise viele andere in dieser Behörde ebenfalls beschäftigte Funktionäre und frühere Systemträger der SED-Diktatur?

 

Die Norm hat den Ruch eines Einzelfallgesetzes, da sie tatsächlich nur für die denkbar kleine Gruppe von knapp 50 Männern gemacht wurde. Einzelfallgesetze aber stehen im Widerspruch zu Artikel 19 Grundgesetz (GG). Unabhängig davon, wie im entsprechenden Streitfall letztlich das Bundesverfassungsgericht urteilen würde: Guter Stil zeigt sich hier keineswegs. Und das ist das eigentliche Ärgernis dieser Norm: Das Stasi-Unterlagen-Gesetz stellte vor 20 Jahren einen großen Wurf dar. Natürlich war manches unbefriedigend, hätte man manches besser machen, in einigen Fragen mutiger sein können. Aber letztlich haben sich vor 20 Jahren viele mit ursprünglich gegenläufigen oder zumindest voneinander weit entfernten Positionen – Datenschützer, Stasi-Auflöser, Konservative, Liberale, Linke, Journalisten, Wissenschaftler, Gewerkschaftler, Kirchenvertreter, Strafverfolger und nicht zuletzt die Stasi-Opfer – aufeinander zu und in dieselbe Richtung bewegt und im Konsens einen neuen und beispielgebenden Weg zur Aufarbeitung einer Diktatur beschritten.

 

Dabei sind zweifellos Fehler gemacht worden, die Festanstellung von früheren Stasi-Mitarbeitern in der Stasi-Unterlagen-Behörde ist nicht der einzige. Dass man aber 20 Jahre danach nun knickrig wird und nicht mehr bereit ist, zu seinen früheren Entscheidungen zu stehen oder sie zumindest auf einvernehmliche Weise zu revidieren, dass man nun den parteiübergreifenden Konsens dafür opfert, ist nicht zu begreifen. Warum hat es denn die jetzt ebenfalls notwendig werdenden Stellen in der Bundesverwaltung für die früheren Stasi-Mitarbeiter nicht schon in den vergangenen Jahren gegeben? Warum hat man nicht – vielleicht auch unterstützt durch in arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen nicht unübliche Abfindungen – längst eine einvernehmliche Regelung gefunden? Als Folge von Fehlentscheidungen in Personalfragen ist zumindest an anderen Stellen in dieser Behörde in den vergangenen Jahren weit mehr Geld verschleudert worden.

 

Kommen wir zur Ausweitung der Überprüfungsmöglichkeiten, also der Novellierung der §§ 20 und 21 StUG. Ursprünglicher Zweck der Überprüfungsregelungen war ein Elitenwechsel, die Aufdeckung des Herrschaftswissens sowie die Verhinderung des Missbrauchs demokratisch legitimierter Institutionen durch diktatorisch geprägte Netzwerke. Hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter sollten nicht unbemerkt in den öffentlichen Dienst einsickern können, um nicht nachträglich die Ergebnisse der friedlichen Revolution von 1989 und der deutschen Vereinigung zu unterlaufen. Und aus dem Heer der Angepassten und Mitläufer der DDR-Verwaltung, von denen ein großer Teil gefahrlos in den öffentlichen Dienst des Bundes bzw. der neuen Länder übernommen werden konnte, sollten jene herausgefiltert werden, die ihre Stellung, ihre Macht und ihren Einfluss vor allem ihrer Mitarbeit beim MfS zu verdanken hatten. In der ersten Hälfte der Neunzigerjahre waren diese Netzwerke und die von ihnen möglicherweise ausgehenden Gefahren tatsächlich noch schwer durchschaubar, und es war grundsätzlich richtig, eine breite Überprüfung vorzunehmen. Aber was soll heute noch damit erreicht werden? Für die meisten Beamten und Beschäftigten des öffentlichen Dienstes hätte aus beamten- bzw. arbeitsrechtlichen Gründen eine jetzt aufgedeckte frühere Stasi-Tätigkeit keinerlei Auswirkungen mehr. Bei all jenen sollte man sich eine Überprüfung sparen, stellte sie doch nicht nur eine Verschwendung öffentlicher Ressourcen, sondern vielmehr auch einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht sowohl der Überprüften als auch der in den Unterlagen genannten Personen dar. Wenn es dafür keine tatsächliche Rechtfertigung mehr gibt, sind solche Eingriffe unzulässig.

 

Nebenbei bemerkt: Den von der Stasi-Repression Betroffenen sowie den Wissenschaftlern, Publizisten und Journalisten bleibt es nach wie vor unbenommen, über frühere Stasi-Mitarbeiter zu berichten, auch wenn diese jetzt an mehr oder weniger herausgehobenen Positionen im öffentlichen Dienst beschäftigt sind. Wenn dann der jeweilige Dienstherr einen Überprüfungsbedarf sieht, wäre eine verdachtsabhängige Überprüfungsmöglichkeit, wie sie jetzt zusätzlich in den §§ 20 und 21, jeweils Abs. 1 Nr. 6 d StUG vorgesehen ist, vollkommen ausreichend gewesen.

 

Zuzustimmen ist der Ausweitung der Überprüfungsmöglichkeiten für ehrenamtliche Mitarbeiter und Gremienmitglieder von Aufarbeitungsinstitutionen (§§ 20 und 21, jeweils Abs. 1 Nr. 7 e StUG) – hier wurde tatsächlich eine Lücke sinnvoll geschlossen. Es ist völlig verständlich, dass dort zumindest niemand mitarbeiten und mitentscheiden soll, der nicht zur Auseinandersetzung mit einer eigenen Verstrickung in das Herrschaftssystem der SED-Diktatur bereit ist.

 

Grundsätzlich zuzustimmen ist auch dem etwas leichteren Zugang zu den Unterlagen Verstorbener. Ein Schritt in die richtige Richtung, der aber längst nicht weit genug geht. Warum ist das Zugangsrecht für nahe Angehörige Verstorbener überhaupt durch bestimmte Zwecke begrenzt? Eine grundsätzliche Überlegung ist hier angebracht: Die personenbezogenen Informationen in den Stasi-Unterlagen sind vor der Kenntnisnahme geschützt, weil die dort Genannten mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein Recht im Range eines Grundrechts vorbringen können. Wenn sie mit einer Einsichtnahme nicht einverstanden sind, ist diese lediglich möglich, wenn jemand anderes ebenfalls ein entsprechendes Grundrecht – beispielsweise Informationsfreiheit, Pressefreiheit oder Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 GG) – vorbringen kann. Die einander widerstreitenden Grundrechte müssen dann in einem Abwägungsprozess miteinander möglichst schonend zum Ausgleich gebracht werden. Grundrechtsinhaber können nur natürliche Personen sein. Ist jemand aber verstorben, verliert er auch seine Grundrechtsfähigkeit. Hier kommt dann allenfalls das sogenannte postmortale Persönlichkeitsrecht infrage, gleichfalls ein Recht im Range eines Grundrechts. Grundrechtsträger sind hier aber nicht die Verstorbenen, sondern vielmehr ihre Hinterbliebenen bzw. – um es in der Diktion des StUG zu sagen – die nahen Angehörigen. Diese wiederum können aber nicht mit dem Hinweis auf das nur ihnen zustehende postmortale Persönlichkeitsrecht von einer Aktennutzung ausgeschlossen werden. Grundrechte sind ja Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat – und nicht umgekehrt.

 

Auch die Verkürzungsmöglichkeit der Sperrfrist für die wissenschaftliche Nutzung von Informationen zu Verstorbenen von 30 auf zehn Jahre ist zu begrüßen, geht aber nicht weit genug. In Anlehnung an verschiedene Landesarchivgesetze – die jünger sind als das Bundesarchivgesetz (BArchG), das die 30-Jahresfrist enthält – hätte hier auch eine generelle Sperrfrist von zehn Jahren festgelegt werden sollen. Eine Möglichkeit der Verkürzung dieser Sperrfrist gegebenenfalls bis auf null durch einen Abwägungsprozess, der die Grundrechte der hier widerstreitenden Parteien – der Hinterbliebenen einerseits und dem Wissenschaftler, Publizisten oder Journalisten andererseits – berücksichtigt, ist hier verfassungsrechtlich geboten und hätte eingefügt werden müssen. So ist es im Übrigen auch in § 5 Abs. 5 BArchG geregelt. Die Regelungen in § 32 Abs. 1 Nr. 6 bzw. Abs. 3 Nr. 5 StUG ohne diese Abwägungsmöglichkeit sind eine unzulässige Beschränkung von Artikel 5 GG.

 

IV

Nötig wäre jetzt, nach der Einarbeitungsphase von Roland Jahn als neuer Bundesbeauftragter, eine zukunftsorientierte Diskussion des Stasi-Unterlagen-Gesetzes. Dabei muss das Ziel die Annäherung des StUG an das Landes- und Bundesarchivrecht sein, jedoch unter Berücksichtigung der bisher gemachten Erfahrungen bei der über die archivrechtlichen Möglichkeiten hinausgehenden Nutzung der Stasi-Unterlagen.

Die Stasi-Unterlagen müssen weiterhin für die persönliche Akteneinsicht, die Forschung und die Presse und im tatsächlich notwendigen Maße auch für die Überprüfung zugänglich bleiben. Der Zugang für die Forschung, die Presse und die politische Bildung muss frei von jeglichen Zweckbeschränkungen sein – die heutige Einengung auf einen Zugang zur "politischen und historischen Aufarbeitung der Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes oder der Herrschaftsmechanismen der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik oder der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone sowie für Zwecke der politischen Bildung" (§ 32 Abs. 1 StUG) steht gleichfalls im Widerspruch zu den Grundrechten aus Artikel 5 GG. Im Bundesarchivgesetz fehlen derartige einschränkende Zweckbindungen aus gutem Grund. Warum beispielsweise sollen die Stasi-Unterlagen nicht als Ressource der Familienforschung genutzt werden? Warum sollen Sozialwissenschaftler nicht die vermutlich größte Briefsammlung der Welt für ihre über die historische Aufarbeitung der Stasi bzw. der SED-Diktatur hinausgehenden Forschungen nutzen können? Warum können viele Unterlagen, die auf Grund der MfS-Aktivitäten in regulären Archiven aus der DDR nicht mehr vorhanden sind, heute in der Stasi-Unterlagen-Behörde nicht als Ersatzüberlieferung, sondern nur unter der einschränkenden Zweckvorgabe des § 32 StUG genutzt werden?

Die 8. Novelle des StUG hat inzwischen auch den Bundesrat passiert und wird damit voraussichtlich in den kommenden Wochen in Kraft treten. Bis auf wenige zaghafte Vorstöße zur erweiterten Aktennutzung fehlt dieser Novelle jedoch jegliche Innovationskraft. Hier ist nicht an einer wegweisenden Rechtsgrundlage der Diktatur-Aufarbeitung unter Berücksichtigung der inzwischen verstrichenen Zeit konstruktiv weitergearbeitet worden, sondern es gab lediglich einige Notreparaturen und nicht wenig Theaterdonner.

Quelle:
Johannes Beleites, Mit lautem Donner zu kurz gesprungen,
in: Deutschland Archiv 44 (2011) 4, S. 484-490.