Der Begriff „Wende“ in der Diskussion

Von Eckhard Jesse

Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ist voller Brüche: 1918 brach das Kaiserreich zusammen, und die erste deutsche Demokratie, die Weimarer Republik entstand; 1933 kam der Nationalsozialismus an die Macht (mehr „Machtübertragung“ als „Machtergreifung“); das „Tausendjährige Reich“ verschwand 1945 – nach zwölf Jahren blutiger Diktatur – von der politischen Bildfläche; 1989 wurde das SED-Regime gestürzt, das in einem Teil Deutschlands seine Herrschaft errichtet hatte. Niemand kam auf den Gedanken, die tektonischen Veränderungen der Jahre 1918, 1933 und 1945 mit dem Begriff der „Wende“ zu umschreiben.
Hingegen bürgerte sich dieser blasse Begriff für den gewaltigen (nicht: gewaltsamen) Umbruch in der DDR schnell ein. Egon Krenz, der Nachfolger Erich Honeckers, sprach in seiner Antrittsrede am 18. Oktober 1989 von einer nötigen „Wende“ durch die SED. Offenkundig stand ihm der Begriff der „Perestroika“ (Umbau) vor Augen. Das griffige Wort von der „Wende“ setzte sich bei der Bevölkerung schnell durch, auch bei denjenigen, die darunter nicht bloß kosmetische Korrekturen wie Krenz verstanden, sondern einen fundamentalen Systemwechsel. Es waren gerade Kritiker von Krenz, die eine wirkliche „Wende“ anmahnten. Viele mokierten sich über den Opportunismus einst Staatstreuer und sprachen ironisch von den „Wendehälsen“. Bis heute ist „Wende“ derjenige Begriff, der für die meisten Ostdeutschen den fundamentalen Wandel des Herbstes 1989 am besten einfängt.
Tatsächlich ist „Wende“ kein überzeugender Terminus für die gravierenden Umbrüche im Herbst 1989: nicht deshalb, weil Egon Krenz ihn aufgebracht hat. Schließlich besetzt dieser in seinem Buch „Wenn Mauern fallen“ (1990) auch den Begriff von der „friedlichen Revolution“ (im Untertitel). Mehr noch: Krenz spielt sich zum Verantwortlichen für die friedlichen Verlauf auf. Wer an Regierungswechsel in einem demokratischen Verfassungsstaat denkt, kann „Wende“ mit Fug und Recht gebrauchen.
In der Bundesrepublik gab es solche „Wenden“ 1969, 1982 (Helmut Kohl sprach von einer „geistig-moralischen Wende“) und 1998. In jenem Jahr vollzog sich zum ersten (und bisher zum letzten) Mal ein ungefilterter Regierungswechsel: Die beiden Oppositionsparteien SPD und Grüne gelangten in die Regierung, die beiden Regierungsparteien in die Opposition. Im Herbst 2005 kam es zu einer halben „Wende“.
Ein Systemwechsel kann schwerlich eine bloße „Wende“ sein, wohl aber ein Regierungswechsel innerhalb eines Systems. Die Massivität der Veränderungen wird durch eine „Wende“ nicht abgedeckt.
Der Begriff „Wende“ ist analytisch ohnehin nicht sonderlich tragfähig. Immerhin hat er einen Vorteil: Der vage Terminus lässt offen, ob die Vorgänge stärker auf den Niedergang der alten Machthaber zurückgehen („Zusammenbruch“) oder auf die Entschlusskraft ihrer Gegner („Systemsturz“). In diesem Punkt ist „Wende“ nicht spezifisch konnotiert.
Hat sich bei der Bevölkerung (im Osten noch mehr als im Westen) „Wende“ durchgesetzt, so in der wissenschaftlichen Literatur der eher sperrige Begriff von der „friedlichen Revolution“. Mit „Revolution“ ist die Umwälzung aller Verhältnisse gemeint, die auf die tragende Rolle von Gegnern des Systems zurückgeht und nicht auf die Schwäche der Herrschenden (“Implosion“); das Epitheton „friedlich“ soll eine positive Bewertung der revolutionären Geschehnisse signalisieren. Der friedliche Verlauf, und das ist die Kehrseite, hat freilich die spätere Auseinandersetzung mit den Verantwortlichen der Diktatur erschwert und „Ostalgie“ erleichtert. Timothy Garton Ash, der britische Chronist der (ost-)mitteleuropäischen Vorgänge Ende der achtziger Jahre, spricht von „Refolutionen“, um den Mischcharakter der damaligen Ereignisse zu betonen.
Bei der Verwendung von Schlüsselwörtern muss vor zwei Gefahren gewarnt werden: Zum einen versuchen Politiker und auch Wissenschaftler, mit Worten Politik zu machen. Insofern ist sprachliche Klarheit ein Gebot wissenschaftlicher Redlichkeit. Zum andern kann sprachlicher Purismus in Richtung politischer Korrektheit führen. Man denke an den Streit darum, ob es „Reichspogromnacht“ oder „Reichskristallnacht“ heißen soll. Viele Bezeichnungen sind ungenau. So war die DDR keine „zweite deutsche Diktatur“, sondern eine „Diktatur auf deutschem Boden“. Schließlich konnte die SED sich nur dank der Sowjetunion derart lange halten. Die Parallele zur „ersten deutschen Diktatur“, dem Dritten Reich, stimmt also in dieser Hinsicht nicht. Und wer die DDR als „Staatssicherheitsstaat“ charakterisiert, spielt die führende Rolle der Partei
herunter.
Die Auseinandersetzung zwischen Michael Richter und Rainer Eckert (Deutschland Archiv, Heft 6/2007) über den Gebrauch des Wortes „Wende“ ist keineswegs fundamentaler Natur. Beide sind sich einig über die Massivität des positiv zu bewertenden Systemwechsels. Oft hingegen signalisiert der Streit um Begriffe eine unterschiedliche Interpretation. Wenn die Bevölkerung den eingängigen Begriff „Wende“ gebraucht, so ist das für sich genommen noch kein Anlass zur Kritik. Wer „Wende“ aus dem Sprachgebrauch verbannen will (mit Blick auf die Vorgänge für 1989/90), muss konsequenterweise auch den des „Wendehalses“ vermeiden. Dabei bringt dieser seinerzeit verbreitete Terminus sehr gut zum Ausdruck, dass damals viele sich nicht aus Überzeugung zur neuen Entwicklung bekannten, sondern bloß aus taktischer Berechnung. Der beliebte Terminus „aus heutiger Sicht“ legt davon Zeugnis ab.
Wer allerdings von einer „Wende in der Wende“ spricht, wie dies zumal in den Reihen der ehemaligen PDS der Fall ist, benutzt eine verräterische Formulierung. Die Revolution in der DDR hatte zwei Phasen. Der „Freiheitsrevolution“ (“Wir sind das Volk“) folgte die „Einheitsrevolution“ („Wir sind ein Volk“). Insofern handelt es sich nicht um eine „Wende in der Wende“, wird doch damit suggeriert, als habe die zweite „Wende“ die erste „Wende“ aufgehoben. Tatsächlich ist die zweite Entwicklung die logische Folge der ersten. Freiheit ermöglichte Einheit. In der Tschechoslowakei hingegen ermöglichte Freiheit die Teilung des Landes.
1989 brach eine kommunistische Diktatur zusammen. Sie hatte niemals die Bevölkerung auf ihrer Seite, auch wenn dies Wissenschaftler aus dem Umfeld der (einstigen) PDS immer wieder zu suggerieren suchen. In dem ersten Moment, in dem sich dank einer günstigen außenpolitischen Konstellation die Chance bot, das diktatorische Regiment abzuschütteln, machte die Bevölkerung davon Gebrauch. Wie immer man die Vorgänge des Herbstes 1989 benennt: Sie wurden nicht von der „Partei der Arbeiterklasse“ initiiert, sondern gegen sie. Das Regime, das ohne Legitimation blieb, betrieb Nachtrabpolitik. Das nützte ihm nichts.
Der Sturz der SED fügte sich in den Sturz anderer kommunistischer Systeme ein.
Der Fall der Mauer symbolisierte das Ende des kommunistischen Herrschaftsapparates wie der (mythisch überhöhte) „Sturm auf die Bastille“ des Ancien Régime. 1989 ist ebenso ein Revolutionsjahr wie 1789.