Richard Schröder Stasi und kein Ende?

(Die kursiv gesetzten Absätze wurden im Spiegel veröffentlicht)

Die Stasi-Unterlagenbehörde BStU lenkt derzeit wieder einmal die öffentliche Aufmerksamkeit verstärkt auf sich, zum einen wegen der dort beschäftigten 45 ehemaligen hauptamtlichen Stasi-Mitarbeiter, die nun per Gesetz entfernt werden sollen, zum anderen wegen der Änderungen bei der Überprüfungspraxis. In seiner ersten Fassung hatte das Stasi-Unterlagengesetz die Verwendung der Akten zu Überprüfungen auf Stasi-Mitarbeit nur bis zum Jahre 2006 erlaubt. Von da an sollte die Stasi-Mitarbeit keine Rolle mehr spielen dürfen. 2006 aber wurde die Frist um fünf Jahre verlängert, allerdings wurde der Kreis der überprüfbaren Personen stark eingeschränkt. Nun darf bis zum Jahr 2019 überprüft werden. Der Kreis der überprüfbaren Personen ist wieder etwas entgrenzt, also vergrößert worden.

Das gibt Anlass, über die Aufgabe dieser Behörde wieder einmal grundsätzlich nachzudenken.

Vor dem Mauerfall sind Unmengen von Büchern zum Thema „Vom Kapitalismus zum Sozialismus“ geschrieben worden, aber meines Wissens kein einziges zum Thema „Vom Sozialismus zum Kapitalismus“, exakter: von der Diktatur zur Demokratie und von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft. In Deutschland, wo diese Transformationsprozesse mit der deutschen Vereinigung zusammenfielen, wurden zwei neuartige Institutionen geschaffen, die Treuhandanstalt für den Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft und der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen für einen rechtsstaatlichen Umgang mit den Akten des kommunistischen Geheimdienstes. Die Treuhandanstalt hat ihre Arbeit längst beendet. Obwohl manche die Stasi-Unterlagenbehörde am liebsten zu einer Dauereinrichtung machen möchten, steht fest, dass auch sie ein Verfallsdatum hat, zu dem sie aufgelöst wird. Nach einem informellen Konsens soll das nun im Jahr 2019 geschehen. Das Stasi-Unterlagengesetz schränkt nämlich in genau definierter Weise das Datenschutzgesetz und die Grundrechte des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses ein, indem es für definierte Ausnahmefälle rechtsstaatswidrig zustande gekommene Akten zugänglich macht, die weit in den Intimbereich der Persönlichkeit reichen. Ein solcher Eingriff in Grundrechte kann nur mit der besonderen Situation des posttotalitären Übergangs gerechtfertigt werden, wofür dreißig Jahre eigentlich schon überdimensioniert sind. Auch die Überprüfungen anhand dieser Akten mit arbeitsrechtlichen Konsequenzen können nur mit der posttotalitären Situation gerechtfertigt und dürfen nicht normal werden. 

In der posttotalitären Situation liegt eine Tendenz zur Relativierung rechtsstaatlicher Standards im Namen der Aufarbeitung. Dafür gibt es sehr bedenkliche Beispiele in anderen posttotalitären Ländern.  Zwar ist das Stasi-Unterlagengesetz in dieser Hinsicht geradezu vorbildlich, aber das möchten manche ändern. Hubertus Knabe hat kürzlich wieder empfohlen, den Zugang zu nicht anonymisierten Akten zu erweitern und das Zeigen von kommunistischen Symbolen unter Strafe zu stellen, ohne zu bemerken, dass er damit die Relativierung rechtsstaatlicher Standards, hier des Schutzes der Privatsphäre und der Meinungsfreiheit, weitertreibt.  

Wer also bei der nächsten und letzten Wahl zum Bundesbeauftragten im Jahre 2016 gewählt wird, muss den Willen und die Fähigkeiten mitbringen, diese Behörde aufzulösen und ihre nach Wegfall der Überprüfungen verbleibenden Aufgaben an andere Einrichtungen zu überführen. Was da wie geregelt werden soll, muss grundsätzlich bereits vor dieser Wahl geklärt sein.  

Sowohl die Stasi-Unterlagenbehörde als auch die Treuhandanstalt werden im Ausland bewundert, aber der Prophet gilt nichts im Vaterland. Die Treuhand hat in Deutschland einen denkbar schlechten Ruf. Die Stasi-Unterlagenbehörde ist zwar, wie die immer noch steigende Anzahl von Anträgen auf Akteneinsicht belegt, insoweit breit akzeptiert. Sie wird aber immer wieder einmal frontal angegriffen, zuletzt von Egon Bahr. Er verweist auf Willy Brandt, der gesagt habe, „dass Spanien, wenn es im Umgang mit der Vergangenheit dem deutschen Beispiel folgte, einen Bürgerkrieg auslösen würde.“ Auch mir hat Willy Brandt damals, vor einundzwanzig Jahren, empfohlen, wir sollten die DDR-Vergangenheit ruhen lassen, mit Hinweis auf Spanien. 

Christian Meier hat dargelegt, dass seit der Antike in Friedensverträgen Amnestie-, ja sogar Amnesieformeln üblich waren. Hier die Formel des Westfälischen Friedens: „Beiderseits soll ewiges Vergessen und Amnestie all dessen sein, was seit Beginn dieser Bewegung (d.h. des Dreißigjährigen Krieges) an welchem Ort und auf welche Weise auch immer von der einen oder anderen Seite an feindlichen Akten verübt worden ist, alles sei in ewiger Vergessenheit begraben.“ Hätten wir nicht 1990 auch so verfahren sollen und, wie Helmut Kohl wohl wollte und Friedrich Schorlemmer ausdrücklich, die Akten einfach verbrennen? Die westdeutsche Seite hat 1990, mit Hinweis auf den Saarvertrag, eine allgemeine Amnestie empfohlen. Im Saarvertrag war alles amnestiert worden bis hin zur Körperverletzung, was sich im Streit um die Volksabstimmung „Frankreich oder Deutschland“  zugetragen hatte. Die Volkskammermehrheit hat stattdessen ein Gesetz beschlossen, das den Betroffenen die Akteneinsicht ermöglichte. Weil im Einigungsvertrag dieses Gesetz nicht übernommen wurde, war die Zwei-Drittel-Mehrheit für den Einigungsvertrag in der Volkskammer so lange gefährdet, bis die westliche Seite versicherte, der gemeinsame Bundestag werde ein Stasi-Unterlagengesetz schaffen, das Aktenzugang und Überprüfungen regelt.  Es ist also schlicht falsch, wenn behauptet wird,  das Stasi-Thema sei vom Westen zur Delegitimierung und Demütigung des Ostens instrumentalisiert worden.

Friedensverträge beendeten den in aller Regel kurzen Ausnahmezustand des Krieges. Was da in kurzer Zeit bei entfesselten Emotionen an Unrecht auf beiden Seiten geschehen war, ließ sich leichter vergeben und vergessen als die ganz einseitigen Staatsverbrechen einer modernen Diktatur über Jahrzehnte als Normalität an Wehrlosen.  Allerdings haben Kriegs- und Bürgerkriegsverbrechen im 20. Jahrhundert Dimensionen erreicht, die man sich angesichts der limitierten innereuropäischen Kriege des 19. Jahrhunderts gar nicht hat vorstellen können. Deshalb entstand erst im 20. Jahrhundert der in jenen Friedensverträgen unbekannte Ausdruck „Kriegsverbrecher“. Es ist ein Fortschritt, dass Kriegs- und Bürgerkriegsverbrechen nunmehr international justiziabel sind. Übrigens: da die UN-Charta den Angriffskrieg verbietet, gibt es seitdem auch keine Friedensverträge mehr.

Aber in Spanien ging es doch auch um das Ende einer Diktatur. Sehr wohl, aber in Gestalt einer „Kohabitation“ der Francisten in Verwaltung und Armee auf der einen Seite und der Demokraten im Parlament auf der anderen Seite – ähnlich übrigens wie nach den ersten, noch halbfreien Wahlen in Polen 1989, die Solidarnosc und die „Alten“ im Parlament durch Vorfestlegung etwa gleichstark machten. Es hat sich aber inzwischen gezeigt, dass diese Art von Notfrieden, der die Vergangenheit ruhen lässt, aufgekündigt wird, sobald die Bürgerkriegsgefahr vorbei ist. In Spanien wird inzwischen nach den Massengräbern gesucht und von den Verbrechen des Franco-Regimes gesprochen.  Und in Polen wird seit Jahren über Stasi-Verwicklungen hart gestritten – manchmal überhart, als würde das Pendel von einem Extrem (1989: „dicken Schlussstrich“) zum anderen Extrem schwingen.

Egon Bahr behauptet, die wichtigsten Akten seien ohnehin vernichtet und die großen Fische entkommen. Darin irrt er schlicht. Durch die Überprüfungen würde der Stolz der Ostdeutschen verletzt oder geduckt. Meiner nicht. Er möchte die Ostdeutschen entlasten mit dem Hinweis, Anpassung sei ein Evolutionsprinzip. Doch damit werden alle Katzen grau. Ob jemand den Jungen Pionieren beitrat oder der SED oder ob er Stasi-Spitzel wurde, das waren für DDR-Bürger drei ganz verschiedene Entscheidungen und nicht ein Einerlei von „Anpassung“. Und muss nun, wer Skrupel hatte, der SED beizutreten oder Stasi-Spitzel zu werden, sich vorhalten lassen, naturgesetzwidrig gehandelt zu haben?  In der Philosophie laufen solche Argumentationen unter „naturalistischer Fehlschluss“, nämlich vom Sein aufs Sollen.  Wir Ostdeutschen unterscheiden bei „Anpassung“ genauer als Egon Bahr. 

Die Stasi-Unterlagenbehörde, sagt Bahr, würde einer „Versöhnung“ im Wege stehen. Es gibt aber weltweit kein einziges mir bekanntes Beispiel dafür, dass nach einer Diktatur durch Schließung der Akten Versöhnung entstand. Das liegt am Unterschied zur offenen Feldschlacht, nach der ein Friedensschluss möglich war und jede Seite der anderen bestätigen kann: ihr habt euch tapfer geschlagen. Denn Unrecht und Gewalt vollziehen sich in einer Diktatur anonym und gezielt im Verborgenen, mit Methoden, zu denen sich hinterher niemand öffentlich bekennen möchte. Schild und Schwert der Partei sollte die Stasi sein, aber sie trat nicht zum offenen Zweikampf in den Ring, sondern agierte heimlich und hinterhältig nach Kategorien der Schädlingsbekämpfung (unschädlich machen, liquidieren) oder der Chemie (zersetzen) und mit jeder Art von Lug und Trug. Sie hätte korrekter „Dolch der Partei“ geheißen. Die Wunden, die sie schlug, waren keine Narben, die jemand stolz zeigt, sondern verstörte Seelen, die womöglich die Bewältigung des Alltags blockieren. Man nennt das heute Traumatisierung. 

Diejenigen, die die Stasi traktiert hat, wollten aus ihren Akten erfahren, was Zufall und was hinterhältige Absicht war bei dem, was ihnen widerfahren ist. Sie wollen ihre Biographie verstehen. Dafür bietet die Stasi-Unterlagenbehörde Auskünfte aus den Akten an. Versöhnung wird nicht befördert, wenn den Opfern diese Auskünfte verwehrt würden. Das würde nur argwöhnische Mutmaßungen und unprüfbare Verdächtigungen befördern.                                                                 

Die Behörde habe nicht den Fluss von Informationen verhindern können, „die Persönlichkeiten diffamierten und deren Wahl gefährdeten“, kritisiert Egon Bahr. Aber wenn Stasi-Vorwürfe nicht an den Akten überprüft werden könnten, weil sie unzugänglich sind, hätten doch die Stasi-Offiziere das Informations- und – Desinformationsmonopol!   

Also: die Stasi-Unterlagenbehörde kann Versöhnung gar nicht behindern. Sie kann aber auch nicht Versöhnung befördern. Das sieht der Bundesbeauftragte Roland Jahn offenbar anders. Er sagt nämlich: „Mit meiner Arbeit möchte ich dazu beitragen, ein Klima der Versöhnung zu schaffen. Dazu gehört es, die Bedingungen zu schaffen, dass die Verletzungen der Opfer geheilt werden. Nur dann wird es Vergebung und Versöhnung geben.“ Das Stasi-Unterlagengesetz war darin weise, dass es dem Bundesbeauftragten weder auferlegt hat, ein Klima der Versöhnung zu schaffen noch die Wunden der Opfer zu heilen. Mit beidem ist er nämlich maßlos überfordert. Die Beratung und Betreuung von Opfern ist sinnvollerweise nicht dem Bundesbeauftragten, sondern den Landesbeauftragten zugedacht.

Roland Jahn versteht sich in seinem Amt als Anwalt der Opfer. Dies möchten wir irgendwie sicher alle sein, es ist aber nicht die Aufgabe des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Der hat nämlich dem Auskunftsbegehren der Opfer nach den Regeln des Stasi-Unterlagengesetzes ebenso zu entsprechen wie dem der Täter und der Begünstigten. Nach dem Wortlaut seines Amtseides muss er „Gerechtigkeit üben gegen jedermann.“

Wir leben in einer opferorientierten Kultur. Das ist jedenfalls besser als eine, die Helden feiert, aber übersieht, welche Opfer die Siege oder auch der Fortschritt gefordert haben. Und trotzdem hat auch diese Orientierung an den Opfern ihre Tücke. Da gibt es nämlich oft Begriffsverwirrungen. Wir müssen unterscheiden zwischen denjenigen, die Opfer geworden sind durch Unglück (Erdbebenopfer) oder Unrecht und denjenigen, die Opfer gebracht haben. Opfer sein im ersten Sinne ist für sich genommen weder eine Leistung noch ein Verdienst, weder ein Beweis für Mut noch für Charakterstärke, sondern schlicht ein Widerfahrnis. Opfer dieser Art verdienen unser Mitgefühl und Hilfe. Sie sind zu bedauern, aber nicht zu bewundern. Solche Widerfahrnisse können schwere seelische Schäden verursachen, die das Urteilsvermögen beeinträchtigen.

Anders steht es mit denjenigen, die für eine gute Sache ihre Freiheit oder gar ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben. Sie möchten dafür zumeist gar nicht bedauert werden. Jedenfalls aber verdienen sie unsere Bewunderung.

Dass man Opfern nicht durchweg Oppositionsgeist, vorbildlichen Charakter, Humanität und rechtsstaatliche Gesinnung zusprechen darf, belegen diejenigen „Opfer des Faschismus“, die sogleich die nächste Diktatur errichtet und sich dabei ihren Feinden fatal ähnlich gemacht haben, mit anderem Vorzeichen, versteht sich.  Unbeabsichtigt haben sie dadurch belegt, dass Extreme sich berühren, einander ähnlich sein können. Daraus ergibt sich: Opfer haben nicht immer recht. Sie sind auch nicht die besseren Richter.

Als Beitrag zur Versöhnung und zur Heilung der Verletzungen der Opfer sieht Roland Jahn auch sein energisches Bemühen um die Entfernung ehemaliger hauptamtlicher Stasi-Mitarbeiter aus seiner Behörde. Wenn sie freiwillig gehen, würden die Opfer das als Entgegenkommen empfinden und ihrerseits mit Versöhnungsbereitschaft beantworten, hat er erklärt. Das ist eine Prognose. Ich halte sie für falsch. „Die Opfer“ sind doch gar keine einheitliche Gruppe, die geschlossen agiert. Manche werden sagen: jene Objektschützer, Archivare und Kraftfahrer haben mich ja gar nicht traktiert, das waren andere. Andere Opfer werden sagen: ich bin arbeitslos und die werden bloß versetzt auf einen anderen sicheren Arbeitsplatz.  Versöhnung? Fehlanzeige.

Rechtfertigen kann man die Versetzung dieser ehemaligen Stasi-Mitarbeiter nicht ernsthaft mit Versöhnungsprogrammen, sondern nur damit, dass dadurch ein Anstoß für ein Ärgernis beseitigt wird, nämlich ein Vorwand für üble Nachreden, wie etwa: die Opfer könnten in der Behörde ihren Peinigern begegnen. Die Stasi arbeite selbst ihre Geschichte auf. Die Täter können ihre Akten manipulieren. Gegen all dies ist längst Vorsorge getroffen, oder kurz und hart: diese Vorwürfe sind Verleumdungen. Und wenn jemand sagt, er traue sich nicht in die Stasi-Unterlagebehörde, der dortigen Stasi-Leute wegen, dann wird dem derart Traumatisierten eher eine fachkundige Beratung und Betreuung helfen als eine Gesetzesänderung.

Trotzdem beeinträchtigen jene ehemaligen Stasi-Mitarbeiter den Ruf der Behörde und ihre Versetzung ist wünschenswert. Die Frage ist nur, welche Mittel dafür eingesetzt werden dürfen. Dazu gleich mehr.

Jahn sagt: wenn jene MfS-Mitarbeiter tätige Reue zeigten, würden sie von sich aus einen Versetzungsantrag stellen. Das besagt im Umkehrschluss: wer nicht freiwillig geht, hat nicht bereut. Der Bundesbeauftragte ist nicht befugt, Kriterien echter Reue zu definieren. Tut er es dennoch, begibt er sich ins Feld der Gesinnungsüberprüfung und das ist rechtsstaatswidrig. Außerdem kann kein Mensch anderen Menschen ins Herz sehen. Am ehesten gelingt das noch Liebenden.

Bei Objektschützern ist außerdem schwer zu sagen, was genau sie bereuen sollen.

Den inoffiziellen Mitarbeitern werfen wir Vertrauensbruch gegenüber den Bespitzelten vor. Den hauptamtlichen Vernehmern, Führungsoffizieren, Abhörspezialisten und Postkontrolleuren werfen wir ihre menschenverachtenden Handlungen vor. Hauptamtlichen Objektschützern, Kraftfahrern, Sprengmeistern, Graphologen der Stasi werfen wir genau besehen nicht ihre Tätigkeit selbst vor, sondern den Ort ihrer Tätigkeit, also die Mitgliedschaft beim MfS. Das haben sie aber damals für ein  Ministerium der DDR gehalten, was es ja auch war. Sie waren wohl auch stolz, zu diesem mächtigen Ministerium zu gehören. Dass sie von den Stasi-Methoden wussten, darf man beim Fußvolk der unteren Chargen nicht als sicher voraussetzen. Im MfS sollte ja jeder so wenig wie möglich von Ganzen wissen. Da galt der Grundsatz der inneren Konspiration. Wie viel sie wussten, hing davon ab, wo sie ausgebildet wurden, auf einer Art Polizeischule wie die Objekt- und Personenschützer, oder auf der Fach- bzw. Hochschule der Stasi. Dann wussten sie genau, wo sie waren.

Aber sie haben einen Eid auf die Diktatur geschworen, sagt Jahn. Aber er doch auch! Das haben alle Wehrpflichtigen, auch die von der Bereitschaftspolizei getan, von den Jugendweihegelöbnissen ganz zu schweigen. Ein Eid verliert aber seine Bindekraft, wenn derjenige verschwindet, dem er galt.

Was man jedem Menschen vorwerfen kann, sind Verstöße gegen die Moral der zwischenmenschlichen Beziehungen, namentlich der Nahbeziehungen. Niemand kann glaubhaft behaupten, er wusste nicht, dass man Freunde nicht verraten darf.

Sehr viel schwieriger liegen die Dinge bei politischer Ahnungslosigkeit und ideologischer Verblendung. Wenn jemand den real existierenden Sozialismus für die beste Sache der Welt hielt und die DDR für den besten deutschen Staat, ist das nicht ebenso einfach vorwerfbar wie der Verrat von Freunden. Zum Irrtum gehört nämlich, ihn nicht zu bemerken. Erst wenn die ideologische Verblendung zur Missachtung jener elementaren moralischen Standards führt, die wir heute in den Menschenrechten zusammengefasst sehen, beginnt die eindeutig zumutbare Verwerflichkeit. Mindestens gilt das für eher schlichte Gemüter. Denn Intellektuellen kann man sehr wohl intellektuelles Versagen vorwerfen, wenn sie ideologische Thesen gegen besseres Wissen propagieren oder vor Einwänden bewusst Augen und Ohren schließen.

Ich habe nur einmal mit einem der Objektschützer in der Behörde gesprochen. Er hat mir gesagt: ich musste zu DDR-Zeiten im Wald Wache stehen, weil da ein geheimer Bunker gebaut wurde. Wofür soll ich Reue zeigen? Das konnte ich ihm auch nicht sagen, obwohl ich Theologie studiert habe.

Aber mit Personenschützern der Stasi habe ich ausführliche Erfahrungen aus dem Jahre 1990. Nach Morddrohungen der RAF bekam auch ich als Fraktionsvorsitzender der SPD in der Volkskammer Personenschutz. Ausgebildete Personenschützer gab es aber in der DDR nur bei der Stasi. Also wurde ich fortan von drei Stasi-Leuten geschützt, einem Fahrer, einem Funker und einem Kommandoleiter. Nach meinem Ausscheiden aus der Politik haben sie Kurt Biedenkopf beschützt. Mit denen also habe ich oft gesprochen. Sie haben mir erklärt, der Personenschutz des ZK sei aufgelöst worden. Übrig blieb der des „Polittourismus“, also der politischen Gäste aus Ost und West. Die mussten unterschreiben, dass sie an repressiven Maßnahmen gegen Oppositionelle nicht beteiligt waren und wurden dann vom Innenministerium übernommen – wie die Objektschützer, die zur selben Stasi-Abteilung gehört hatten. Von meinen drei Personenschützern war der Chef recht schweigsam. Die anderen beiden waren empört über das, was sie jetzt über Stasi-Methoden und die Privilegien ihrer Chefs erfuhren. Der eine hatte Jahre lang eine Wochenendehe führen müssen, weil er keine Wohnung in Berlin bekam. Es gab eben auch innerhalb der Stasi gewaltige soziale Unterschiede.

Ich war mir mit Roland Jahn einig, dass die Versetzung jener ehemaligen MfS-Mitarbeiter aus der Behörde wünschenswert ist, aber nur nach rechtsstaatlichen Kriterien erfolgen kann. Leider hat sich herausgestellt, dass unsere Auffassungen von Rechtsstaatlichkeit nicht dieselben sind. 

Er sagt: wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Ich sage: Rechtsstaatlichkeit verbietet viele Wege.  Da rechtfertigt nämlich nicht  der Zweck die Mittel, sondern die zulässigen Mittel begrenzen die  Zwecke.

Er sagt: Stasi-Mitarbeiter haben in meiner Behörde nichts zu suchen. Ich sage: richtig – außer sie sind ganz legal und unter rechtsstaatlichen Verhältnissen dorthin gelangt. Man kann nicht jemandem kündigen oder ihn zwangsversetzen, weil er Stasi-Mitarbeiter war, wenn man ihn seinerzeit angestellt hat, weil er Stasi-Mitarbeiter war – seiner speziellen Kenntnisse und der Kooperationsbereitschaft mit dem Klassenfeind wegen. Ebenso wenig kann man jemandem kündigen oder ihn zwangsversetzen aus Gründen, die bei seiner Anstellung bekannt waren. 

Er sagt: es war ein Fehler, Stasi-Mitarbeiter in der Behörde zu beschäftigen, also muss der Fehler korrigiert werden. Ich sage: auch wenn das ein Fehler war -  im Rechtsstaat können legale Fehlentscheidungen mit Rechtsfolgen für andere nicht einseitig und zu deren Lasten korrigiert werden. Man muss bitten und um Zustimmung werben und Angebote machen und darf nicht zwingen. Beispiel: ich bereue, mein Haus verkauft zu haben. Da haben wir auch ein Beispiel für Wille ohne (rechtsstaatlichen) Weg. Wenn der Käufer nein sagt, ist das das Ende der Fahnenstange. Alles weitere wäre kriminell.

Er sagt: wenn sich das Problem nicht anders lösen lässt, muss man eben ein Gesetz machen. Ich sage: rückwirkende Sondergesetze zur Lösung eines selbstverschuldeten Personalproblems sind rechtsstaatlich unzulässig.

Er sagt: den ehemaligen Stasi-Mitarbeitern in der Behörde habe er nichts vorzuwerfen, er schätze und würdige ihre Arbeit, aber wenn er den Opfern in die Augen schaut, spüre er: die müssen aus der Behörde verschwinden. Ich sage: bei allem Respekt vor den Gefühlen einiger Opfer (nicht alle Opfer haben dieselben Gefühle; einige sehen klar, andere sind traumatisiert), die Gefühle der Opfer dürfen rechtsstaatliche Grundsätze nicht relativieren. Sonst nähern wir uns einem Rechtssystem, in dem die Opfer und nicht die (intentional neutralen) Richter entscheiden. Das hatten wir schon einmal in der Rechtsgeschichte und bis heute in Albanien. Das Rechtssystem, in der die Opfer ohne Richter agieren, ist das System der Blutrache. Es neigt zur Eskalation. Die Erfindung des (intentional) unabhängigen Richters ist vielleicht die größte zivilisatorische Leistung der Menschheit. Man sollte sie auch nicht partiell widerrufen. Man kann an vielen Prozessberichten studieren, dass sowohl die Opfer als auch die Täter mit dem Urteil unzufrieden sind. Dem Täter ist das Strafmaß zu hoch und dem Opfer zu niedrig. Der zweiseitige Einspruch legt nahe, dass der Richter ein gerechtes Urteil gesprochen hat. Er hat die Mitte gewahrt.

Weil Roland Jahn bei seiner Antrittsrede öffentlich das Kriegsbeil gegen die MfS-Mitarbeiter in der Behörde ausgegraben hat, hat er als erste Amtshandlung die Chance für eine einvernehmliche und diskrete Lösung vertan, mit der er wirklich hätte glänzen können. Jetzt ist die Stimmung bei den Betroffenen verhagelt und auf Zwangsversetzungen werden Klagen beim Arbeitsgericht folgen und das könnte bis zum Verfassungsgericht gehen. Die Folge: auf längere Zeit wird der Bundesbeauftragte in der Öffentlichkeit mit einem eher nebensächlichen Thema assoziieret statt mit gewichtigen Themen der Aufarbeitung.

Ich bin gefragt worden: warum setzt du dich für diese Stasi-Leute ein, das haben die doch gar nicht verdient. Ich antworte: für Stasi-Leute setze ich mich gar nicht ein, sondern für rechtsstaatliche Grundsätze – und für meine Selbstachtung. Justitia wird mit verbundenen Augen dargestellt, nicht weil sie blind sei, sondern weil sie ohne Ansehen der Person urteilt. Wenn ein Stasi-Mitarbeiter von rechtsstaatlichen  Grundsätzen profitiert – nun, so profitiert er eben. Dass auch mich das manchmal ärgert, tut nichts zur Sache. 1990 wurde erzählt, führende Stasi-Leute seien im Gegensatz zur SED/PDS für die schnelle Einheit, denn sie wären im Rechtsstaat sicherer als unter dem Einfluss der oppositionellen Bürgerrechtler.  Das Urteil beweist zwar nicht Charakter, aber Intelligenz. Rechtsstaat: sie wussten also genau, was sie uns vorenthalten hatten und wollten es nun für sich haben. Sie sollen es haben, aber bitte endlich aufhören mit dem Gejammer von angeblicher Siegerjustiz.   

Wir haben in der Volkskammer gesagt: wir gehen mit euch anders um, als ihr mit uns umgegangen seid, nämlich rechtsstaatlich. Diesen Stolz lasse ich mir nicht gern nehmen.

Nun zu den Überprüfungen. Sie sind eingeführt worden zur Gefahrenabwehr, nämlich der Gefahr von Stasi-Seilschaften und der Gefahr, dass das Ansehen von Ämtern und Institutionen beschädigt wird. Überprüft wird die Eignung für die entsprechenden Ämter und Aufgaben. Um Eignung heute geht es und nicht, wie beim Strafprozess, um einzelne Taten von früher.

Die Gefahr von Seilschaften, also einem Geflecht von persönlichen Beziehungen zwischen Politik, Verwaltung und Wirtschaft, bestand nur bei hauptamtlichen Stasi-Mitarbeitern, denn die inoffiziellen Mitarbeiter (IM) wussten ja gar nicht von einander. Das Prinzip der inneren Konspiration verbot sogar, dass ein Führungsoffizier die IMs eines anderen persönlich kannte. Die Bemühungen um solche Seilschaften gab es 1990 tatsächlich. Ein Beispiel: ein MfS-Mitarbeiter wechselt ins Grundbuchamt, der andere wird Grundstücksmakler. Im Unterschied zu anderen ehemals sozialistischen Ländern ist in Deutschland die Gefahr solcher Seilschaften in Politik und Verwaltung hinein gebannt worden, weil einmal alles durchgeprüft worden ist. Damit ist dieser anfängliche Überprüfungsgrund erledigt. Und dass sich die SED-Elite die Wirtschaft großen Teils unter den Nagel reißt, ist durch die Arbeit der Treuhand weitestgehend verhindert worden, wiederum im erfreulichen Unterschied zu anderen ehemals sozialistischen Ländern. Anders stellen sich die Dinge in der Landwirtschaft dar.

Es gibt zwar sicherlich kleinere Seilschaften in der Wirtschaft nach dem DDR-Motto: hilfst du mir, helf ich dir, das aber z.B. auch in Köln bekannt ist. Die Herbstlosung „Stasi in die Produktion“ haben nicht wenige als Aufforderung verstanden, sich nun als Unternehmer zu profilieren, öfters mit Startkapital aus Stasikassen. Wo das ermittelt werden konnte, ist das Geld aber zurückgeholt worden. Und es gibt Unterstützungsorganisationen der „bewaffneten Organe der DDR“, sogar welche mit Internetauftritt, wie ISOR. Von der Linken werden Beziehungen in diese Richtung unterhalten.

Aber das rechtfertigt nicht die Behauptung, es gebe fortwirkende Stasi-Strukturen in Politik und Verwaltung hinein oder gar Unterwanderungen. Das gehört ins Kapitel Gespensterfurcht, die allerdings von manchen aus politischem Interesse auch noch gefördert wird, z.B. von der CDU-Vorsitzenden Brandenburgs. Regelmäßig werden dabei inoffizielle und hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter in einen Topf geschmissen.

Es bleibt also heute nur der andere Überprüfungsgrund übrig: das Ansehen der Ämter und Institutionen.

Dieses wird beeinträchtigt, wenn sich herausstellt, dass Beschäftigte des öffentlichen Dienstes oder Inhaber öffentlicher Ämter eine Stasi-Mitarbeit verheimlicht haben. Das betrifft zu allermeist inoffizielle Mitarbeiter. Hauptamtliche, die ja wie die SED-Mitglieder zu DDR-Zeiten als solche bekannt waren, verharmlosen aber gelegentlich Art und Umfang ihrer Tätigkeit.

Das Anstößige, um dessentwillen die Überprüfungen stattfinden, ist also hier nicht die Tätigkeit für das MfS damals, sondern die bis heute fortwirkende Täuschung des Arbeitgebers oder der Öffentlichkeit über jene damalige Tätigkeit. Sie dokumentiert Unehrlichkeit heute und deshalb beeinträchtigt sie die Eignung für hervorgehobene Ämter und Aufgaben heute, namentlich wenn es um hoheitliche Aufgaben geht, wie bei Polizei und Justiz.

Grundsätzlich gilt auch für diese Überprüfungen der römische Grundsatz: „ne bis in idem“, nicht zweimal in derselben Sache. Unzulässig wäre deshalb eine Überprüfungswiederholung bei unveränderter Aktenlage mit dem Argument: wir haben heute strengere Maßstäbe.  Das untergrübe die Rechtssicherheit.

Es war schon etwas Richtiges im Blick, als die Erstfassung des Stasi-Unterlagengesetzes die Überprüfungen zeitlich begrenzen wollte und die Revision des Gesetzes im Jahre 2006 den Personenkreis der Überprüfungen einschränkte. Aus derselben Überlegung heraus gibt es im Strafrecht Verjährungen und auch im Arbeitsrecht Fristen, nach denen bestimmte Sachverhalte nicht mehr zur Kündigung berechtigen.

Es hat sich aber gezeigt, dass diese Einschränkungen der Überprüfungen zum Schutz des Rufes der Ämter und Institutionen deshalb nicht genügen, weil sich Stasi-Vorwürfe auch aus Opferakten oder Akten, die Medien zugänglich sind, ergeben können. Es darf nicht sein, dass dann dem Dienstherrn die Hände per Gesetz gebunden sind und er die öffentlich gewordenen Vorwürfe nicht überprüfen darf. Da musste die Waffengleichheit zwischen Medien und Dienstherren wiederhergestellt werden und das ging nur durch Ausweitung der Überprüfungsmöglichkeiten für die öffentlichen Dienstherren. Ob dafür ein Verdacht vorliegen muss, wie SPD und Bündnis 90/Grüne gefordert haben, oder Überprüfungen auch ohne Verdacht möglich sind, wie die Koalition beschlossen hat, ist für mich eine Frage von nur mittlerer Tragweite. Man kann mit beidem vernünftig leben.

Wichtiger ist folgendes: das Gesetz erlaubt eine Ausweitung der Überprüfungen, aber gebietet sie nicht. Die Entscheidung ist der Weisheit des jeweiligen Dienstherren - und nicht dem Bundesbeauftragten anheim gegeben. Grundsätzlich aber sollte gelten: nicht so viel wie möglich, sondern so viel wie nötig überprüfen. Der Bundesbeauftragte liefert immer nur die Aktenauskunft. Die Beurteilung liegt beim Empfänger, dem jeweiligen Dienstherren. Ich selbst bin von verschiedenen Stellen insgesamt neun Mal überprüft worden. Einmal endete die entlastende Mitteilung mit dem Satz: „Wir hoffen, dass es dabei bleibt.“ Denn die Bescheide des BStU stehen ja immer unter dem Vorbehalt, dass noch nicht alle Akten erschlossen sind.

Noch einmal: die Eignung heute wird durch das bis heute anhaltende Verschweigen einer Stasi-Mitarbeit in Frage gestellt. Nach über zwanzig Jahren ist die Stasi-Mitarbeit als solche nicht notwendig eine Eignungsbeeinträchtigung – wenn sie denn bekannt gemacht worden ist. Für die Frage, wie man einen Mitarbeiter heute beurteilen soll, sind nämlich die letzten zwanzig Jahre immer wichtiger als die vorletzten zwanzig Jahre. Manche denken hier aber offenbar in Kategorien des Strafrechts. Jede Straftat muss gesühnt werden – bis zur Verjährung.

Das rotierende Messer eines Rasenmähers kann schwere Verletzungen verursachen - aber nicht, wenn es abgeschraubt auf dem Tisch liegt. Ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter ohne Stasi hat für uns seinen Schrecken verloren. Alles andere ist Gespensterfurcht. Was man ihm anvertrauen darf, sollte man auch ohne Akteneinsicht aus Kenntnis seines Verhaltens in den letzten zwanzig Jahren erkennen können. Wenn wir das beherzigen, brauchen wir keine großartigen Versöhnungsprogramme, und schon gar keine scheinheiligen oder verquasten. 

Richard Schröder, 67, ist Theologe und Beiratsvorsitzender der Stasi-Unterlagenbehörde.

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