Vater vergib!

Nach der Zerstörung der Kathedrale von Coventry (Großbritannien) am 14./15. November 1940 durch deutsche Bombenangriffe ließ der damalige Dompropst Richard Howard die Worte „Vater vergib“ in die Chorwand der Ruine meißeln. 

Diese Worte bestimmen das Versöhnungsgebet von Coventry, das die Aufgabe der Versöhnung in der weltweiten Christenheit umschreibt. Das Gebet wurde 1958 formuliert und wird seitdem an jedem Freitagmittag um 12 Uhr im Chorraum der Ruine der alten Kathedrale in Coventry und in vielen Nagelkreuzzentren der Welt gebetet.

Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten. (Römer 3, 23)

Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse,

Vater, vergib.

Das Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr Eigen ist,

Vater, vergib.

Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet,

Vater, vergib.

Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der Anderen,

Vater, vergib.

Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge,

Vater, vergib.

Die Gier, die Frauen, Männer und Kinder entwürdigt und an Leib und Seele missbraucht,

Vater, vergib.

Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott,

Vater, vergib.

Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem anderen, wie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus. (Epheser 4, 32)

(In verschiedenen Sprachen: http://nagelkreuz.org/versoehnung/versoehnungsgebet)

Coventry – Versöhnung statt Hass

Das Nagelkreuz von Coventry steht als Zeichen der Versöhnung in vielen Zentren der Welt, in Europa und in Deutschland, wo sich Menschen die Aufgabe stellen, an der Überwindung der Gegensätze mitzuwirken. Die Geschichte des Nagelkreuzes ist von beispielhafter Bedeutung. Am 14. November 1940 zerstörten deutsche Bombengeschwader die Stadt Coventry in England und mit ihr die mittelalterliche Kathedrale St. Michael. Bei den Aufräumungsarbeiten fanden sich in den Trümmern grosse eiserne Nägel, die seit dem 14. Jahrhundert die schweren Balken des Gewölbes im Kirchenschiff gehalten hatten. Aus drei solcher Nägel wurde ein Kreuz gebildet. Daraus entstand das Symbol des Nagelkreuzes von Coventry, das noch heute auf dem Ruinenaltar steht. Später ließ der damalige Dompropst Richard Howard an die Chorwand dahinter schreiben: ”Father forgive” (Vater vergib). So wurde aus den Überresten der Zerstörung ein Symbol geschaffen, das den Geist der Vergebung und des Neuanfanges ausdrücken will: Versöhnung statt Hass.

Das Nagelkreuz von Coventry als Herausforderung zur Versöhnung in Deutschland

Das Nagelkreuz von Coventry fordert auch uns Deutsche heraus, mit unserer zwiespältigen Vergangenheit im Geiste der Versöhnung umzugehen. Die britische und amerikanische Luftwaffe zerstörte während des Krieges viele deutsche Städte, unter anderen am 13. Februar 1945 die Stadt Dresden. Englische Freiwillige halfen im Rahmen eines ökumenischen Jugendaufbaulagers beim Wiederaufbau des zerstörten Diakonissenmutterhauses in Dresden. Junge Menschen von “Aktion Sühnezeichen” beteiligten sich am Aufbau des Internationalen Begegnungszentrums in der Ruine von Coventry. Das Nagelkreuz will als Symbol für Frieden und Versöhnung hineinwirken in die konkreten Situationen der Menschen unserer Gegenwart. In diesem Zeichen suchen wir den Dialog zwischen Menschen verschiedener Nationen und Religionen, um gemeinsam den Weg zu einem gerechten Frieden zu finden.

Nagelkreuzgemeinschaft: Gemeinsam leben im Zeichen der Versöhnung

Die Nagelkreuzgemeinschaft von Coventry hat ihre geistlichen Wurzeln in der biblisch begründeten Regel des Hl. Benedikt von Nursia (aus dem 6. Jahrhundert): Beten und Arbeiten (ora et labora), Frömmigkeit und Leben werden als Einheit verstanden.

Für die inzwischen weltweite Nagelkreuzgemeinschaft haben sich drei geistliche Elemente herausgebildet:

  • das Versöhnungsgebet und die Fürbitte füreinander,
  • der gemeinsame Dienst der Versöhnung in Konfliktbereichen der Welt,
  • die gemeinsame Lebensregel.

Die gemeinsame Lebensregel bietet Anregungen und Ermutigungen für ein christliches Leben: Wir hoffen, dass wir keine strenge Regel aufstellen, nichts Beschwerliches, …Befolge mit der Hilfe Christi diese einfache Regel… (Hl. Benedikt).

 

1. Versöhnung mit der Schöpfung:

Versöhnung bedeutet, dass wir der Natur liebevoll und schonend begegnen. Gottes Schöpfung ist uns heilig. Wir sind Teil der Schöpfung. Zum Ebenbild Gottes sind wir geschaffen. Gott ruft uns, seine Schöpfung zu bewahren und zu schützen vor dem Besitzstreben von Menschen und der damit verbundenen Ausbeutung. Wir wollen für Gottes Welt und seine Menschheit sorgen, und so für künftige Generationen die Lebens­grundlagen erhalten. Wir wollen zum Anwalt der gefährdeten Schöpfung werden. Das hat Folgen für unser Leben in der Gemeinschaft und für unseren persön­lichen Lebensstil. Wir bemühen uns um die Kenntnis ökologischer Zusammen­hänge, versuchen sensibel zu sein beim Verbrauch von Energie und anderen natürlichen Ressourcen, sowie bei Fragen der Ernährung und der Erhaltung von natürlichen Lebensräumen.

2. Gottesdienst als Fest der Versöhnten:

Christus lädt uns ein in die Gemeinschaft der Versöhnten. Er befreit uns aus unserer Unvollkommenheit und versöhnt uns mit Gott und untereinander. Darum ist der Gottes­dienst das Herzstück christlichen Lebens. Hier erfahren wir die Gegenwart Gottes. Wir nehmen teil am Leben der Gottesdienstgemeinde und feiern mit ihr das Heilige Abend­mahl (Eucharistie) als Fest der Versöhnung. Unser Hören, Beten, Singen und Feiern sind Ausdruck unserer Freude und Dankbarkeit.

3. Beten im Geist der Versöhnung:

In Lobpreis, Klage und Fürbitte reden wir mit Gott. Aber oft ist unser Beten ein “unaussprechliches Seufzen, und wir wissen nicht, was wir beten sollen” (vgl. Röm 8,26). Im Schweigen, in der Stille und im Hören auf Gott öffnen wir uns der Wirklichkeit Gottes. Mit dem Versöhnungsgebet von Coventry bitten wir “Vater vergib”. Wir verbin­den uns mit dem Leiden dieser Welt, mit den Verletzten, mit den Verfolgten, mit den Bedrängten und Missbrauchten. Wir verbinden uns mit den Gliedern der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft durch dieses Gebet im Geist der Versöhnung. Wo wir Konflik­ten und Ängsten begegnen, versuchen wir, Instrumente des Friedens Christi zu sein.

4. Gemeinschaft der Versöhnten:

Wir erleben die Sehnsucht nach Gemeinschaft, in der Vertrauen erfahrbar wird und Freundschaft wachsen kann. In unserer Gesellschaft nehmen Vereinsamung und Ver­ein­zelung zu. Dies betrifft Familien, Ehepaare, Alleinlebende und Kinder. Wir wollen Fremdheit überwinden, Spannungen und Konflikte aushalten, Freude und Trauer teilen, und von eigenen Stärken und Schwächen sprechen lernen. Als Mitglieder der Nagel­kreuzgemeinschaft wollen wir deshalb

  • Beziehungen stiften und Bindungen eingehen,
  • in vorhandenen christlichen Gemeinschaften, Gemeinden oder anderen Lebensformen mitarbeiten,
  • eine eigene Gruppe oder Kapitel bilden oder uns an einem Hauskreis (Foyer) beteiligen.

Unsere Gemeinschaft setzt sich ein für das Zusammenwachsen im vereinten Deutsch­land. Wir tragen dazu bei, dass sich unter uns eine Kultur der Gastfreundschaft ent­wickeln kann. Wir nehmen teil an den Glaubens- und Lebenserfahrungen anderer und setzen uns dafür ein, dass Fremde nicht Fremde bleiben. Mit der weltweiten Nagel­kreuzgemeinschaft fühlen wir uns verbunden. Sie eröffnet uns die Chance, die Gemein­schaft von Versöhnten über unsere nationalen und konfessionellen Grenzen hinweg zu erfahren. Das bereichert unser Leben. Wir sind dankbar für die geistlichen und gesell­schaftlichen Impulse ökumenischer und internationaler Verständigung, die von Coventry ausgehen. Wir wollen versuchen, diese Impulse auf unsere Weise zu gestalten und fortzusetzen. Dabei bewahren wir die spirituelle Verbundenheit mit der Kathedrale von Coventry.

5. Leben in der Versöhnung:

Wir glauben, dass Gott uns in Christus annimmt, wie wir sind. Gott versöhnt uns mit sich und mit uns selbst. Durch Gottes Zuwendung erhalten wir die Würde unseres Lebens und werden fähig zur Versöhnung untereinander. Wir leben in einer Zeit, in der der Lebenswert durch Leistung, durch Privilegien oder von materiellem Besitz bestimmt ist. Wir geraten leicht in Abhängigkeit von Normen und Wertvorstellungen unserer Zeit. Wir wissen von der Selbstzerstörung, die durch Überforderung und Selbstüberschät­zung kommen kann. In Zeiten der Anspannung und der Sehnsucht nach Gelassenheit benötigen wir Orientierung für unser eigenes Leben und für unseren Umgang mit unse­ren Mitmenschen. Deshalb erinnern wir uns an die biblische Grundhaltung: “Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat” (Römer 15,7). Gelassenheit kommt in unser Leben, wenn Christus die Mitte unserer Existenz wird. In dieser Lebenshaltung können wir Spannungen aushalten und Glück genießen, Leiden annehmen und Feste feiern. Darum nehmen wir uns Zeit für uns selber, für Muße und ausreichenden Schlaf, für schöpferisches Tun und die Pflege menschlicher Beziehungen. Weil unser materielles und geistiges Eigentum uns von Gott gegeben ist, sind wir bereit, unseren Besitz und unsere Begabungen mit anderen zu teilen und im Geben und Nehmen einander zu ergänzen.

6. Im Dienst der Versöhnung:

Wir wollen dazu beitragen, dass Feindschaft, Unverständnis und Fremdheit zwischen Menschen und Völkern überwunden werden. Wir suchen nach gewaltfreien Wegen der Verständigung. Zwischen ehemals verfeindeten Völkern Westeuropas hat nach dem Zweiten Weltkrieg ein beispielhafter Prozess der Versöhnung eingesetzt, dessen Folgen wir dankbar erleben. Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) hat die Entspannung zwischen ideologisch verfeindeten Systemen gefördert, indem sie die gemeinsamen Aufgaben über das Trennende stellte. Heute versuchen die Länder des ehemaligen Ostblocks, in neuen nationalen Bewegungen ihre Identität zu finden. Mit ihnen ist eine friedliche Architektur des gemeinsamen europäi­schen Hauses zu entwickeln. Über die Beschäftigung mit europäischen Fragen darf die noch größere Herausforderung von Hunger, Armut und Unrecht in der übrigen Welt nicht vergessen werden.
Wir wollen mithelfen, Feindbilder abzubauen und Misstrauen und Neid zu überwinden. Schritte auf dem Wege zu einem gerechten Frieden sind ein Grundgebot unserer Bewegung. Soweit es in unseren Kräften steht, beteiligen wir uns an der Diskussion und Gestaltung einer Weltwirtschaftsordnung, die Arbeit, Güter und Gelder gerechter verteilt. Wir wollen uns dafür einsetzen, dass Spaltungen und Trennungen innerhalb der Christenheit aufgehoben werden. Wir wollen dazu beitragen, dass die Fremdheit zwischen Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religionen abgebaut wird. Wir beginnen damit dort, wo wir leben. Unsere Möglichkeiten sind begrenzt. Wir entschei­den gemäß unserer lokalen Gegebenheiten, welcher Dienst der Versöhnung in unserem Bereich angemessen und durchführbar ist.

“Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünde nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns; so bitten wir nun an Christi Statt: Lasst euch versöhnen mit Gott” (2.Korinther 5, 19-20)

(Der Leitungskreis der Nagelkreuzgemeinschaft in Deutschland | Halle, 23. Mai 1993)

Verbunden im Gebet

Nicht nur durch die Versöhnungslitanei von Coventry wissen sich die Mitglieder der Nagelkreuzgemeinschaft im Gebet miteinander verbunden. Auch aus dem Interesse und der Anteilnahme an den Freuden und Sorgen der anderen entspringt das Gebet füreinander. Die von der Kathedrale von Coventry zusammengestellte Fürbittenliste der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft bietet die Möglichkeit, im Monatsrhythmus die anderen Nagelkreuzzentren und ihr Engagement für Frieden und Versöhnung vor Gott zu bringen.

Fürbittenliste der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft

Die deutsche Nagelkreuzgemeinschaft http://nagelkreuz.org/ 

Die Internationale Nagelkreuzgemeinschaft http://www.coventrycathedral.org.uk/ccn/ 

Das Augustinerkloster in Erfurt gehört mit zur Nagelkreuzgemeinschaft. Im Keller der alten Klosterbibliothek, die im zweiten  Weltkrieg zerstört wurde, steht das Nagelkreuz. Tagsüber kann dieser Ort zu Stille und Einkehr genutzt werden. Jeden Freitag 12 Uhr wird dort die Friedenslitanei gebetet.