Bürgerengagement und Zivilcourage -

Das Logo war das der Straßenführung des geplanten Innenstadtringes nach- empfundene Erfurter Rad (Stadtwappen)
Das Andreasviertel 1989



Der Bürgerwall um die Altstadt am 10. 12. 1989
Das Denkmalschutzgebiet und die alternative Verkehrsplanung
Die "besetzte Fabrik" in der Weißen Gasse - daraus ging das Alternative Jugendzentrum (AJZ) hervor
Sanierungsbeginn mit der "Hessenhilfe" im Frühjahr 1990 (Fotos: M. Sengewald)
Silberne Halbkugel - Denkmalpreis 1991

die Bürgerinitiative Altstadtentwicklung “ oder wie das Andreasviertel gerettet wurde.

Es war im November 1986: An einem Abend trafen sich in den Räumen der “Offenen Arbeit” der Evangelischen Kirche ein Handvoll Leute. Der (inzwischen verstorbene) Pfarrer Pappe stellte dar, was er von den Plänen für die “Neugestaltung” der Erfurter Altstadt wusste und was das für ihn als einer, der Erfurt liebte, bedeutete. Aber die Zuhörer waren zum größeren Teil bereits sensibilisiert: Wenn es so weitergeht mit den Abrissen, wenn die Pergamentergasse durch eine vierspurige Stadtautobahn ersetzt wird, dann geht wieder ein ganz wesentliches Stück der Eigenart dieser geschichtsträchtigen Stadt verloren. Was tun? - diese Frage stand am Schluss im Raum. Die meisten der Besucher beschlossen, sich wieder zu treffen. Das war die Geburtsstunde der "Arbeitsgruppe Stadt- und Wohnumwelt" bei Stadtmission und Gemeindedienst der evangelischen Kirche, später bekannt als “Bürgerinitiative Altstadtentwicklung Erfurt e.V”.

Als erstes wurde verabredet, private Eingaben zu der Problematik zu schreiben. Dies war die einzige Möglichkeit zu DDR-Zeiten, auf die Politik Einfluss zu nehmen, denn die gewählten  Politiker verstanden sich eher als Interessenvertreter des Staates und “erklärten” nur den Bürgern, warum ihre Politik richtig ist. Bei der Sammlung und Auswertung der in den Eingaben-Gesprächen erlangten Informationen wurde erst das gesamte Ausmaß deutlich. Und wieder die Frage, was tun? Klar war, dass ein Großteil der Erfurter Bevölkerung nur bruchstückhaft oder gar nichts von den “Rekonstruktionsplänen” wusste und vor allem dass die Auswirkungen nicht deutlich waren. Die Idee einer Ausstellung wurde geboren, und bald war klar, dass die nur im kirchlichen Rahmen sein konnte. Als Jugendwart im kirchlichen Dienst fand ich im Stadtmissionspfarrer Hartmann einen bereitwilligen Partner, die Mitarbeiter in der Denkmalpflege Thomas Staemmler und Ludwig Volkmann bereiteten die Informationen auf, Dieter Stark und Knopf Burghardt von der Offenen Arbeit fotografierten, und auch der damalige Praktikant im VEB Denkmalpflege Holger Reinhardt machte Foto-Vergrößerungen. Die Bibliothekarin Katrin Nitsch durchforschte die Archive, und Marion Döge ließ zusammen mit der Malerin Katrin Sengewald die Pergamentergasse in der Phantasie wieder erstehen; die lange Papierrolle dafür hatte ein Soldat von der "Agitationsabteilung" der Steigerkaserne organisiert”.

Vom 8. Mai bis 6. Juli 87 lockte die Ausstellung "Stadtgerechter Verkehr - verkehrsgerechte Stadt" über den geplanten Abriss im Andreasviertel und die Stadtring-Schließung durch die Altstadt 12.000 Besucher in die Michaeliskirche. In der Zeit wurden zwei öffentliche Gespräche, wie nicht anders zu erwarten ohne Beteiligung der Stadtverantwortlichen, durchgeführt. Als einzige Zeitung berichtet das evangelische Wochenblatt "Glaube und Heimat". Aber die Brisanz entstand vor allem durch die Meinungsäußerungen in den ausgelegten Büchern. Auch wenn das erste nach einer Woche gestohlen wurde und es nach der Friedlichen Revolution bei der Stasi wiederzu sehen war: zum größten Teil stellten sich die Besucher, z.T. sogar mit Namen hinter unser Anliegen. Alle Meinungsäußerungen wurden ausgewertet und in Form von zwei umfangreichen Eingaben zur Denkmalpflege und zur Verkehrsplanung an den Rat der Stadt übergeben und später an die zuständigen Ministerien und den Vorsitzenden des Staatsrates Honecker geschickt. Dies löste so viel Unruhe aus, dass die Pläne erstmal auf Eis gelegt wurden. Die Oberbürgermeisterin lud seitdem fast monatlich am Sonntag vormittag zum "Rathausgespräch" ein. Auch wenn da Probleme genannt werden konnten, so doch keine grundsätzlicher Art. Und die Antworten liefen fast immer nach dem Muster: "Liebe Bürger, wir tun immer nur das Beste für sie. Und wenn sie das anders sehen, haben sie es nur noch nicht verstanden. Deshalb erklären wir es noch einmal, das alles so sein muss wie es ist!"

Im Rahmen des Kirchentages 1988 fand eine zweite Ausstellung “Stadt am Kreuzweg”  statt. Die Pläne wurden umgearbeitet, aber letztlich setzten dem die ideologisch verursachten fehlenden Möglichkeiten der DDR-Wirtschaft, insbesondere die fast vollständige Orientierung auf den “industriellen” Platten-Neubau und damit verbunden das fehlende Bauhandwerk enge Grenzen. Erst die politischen Veränderungen 1989 brachten die grundlegende Änderung. Und die Mitglieder unserer Gruppe waren gut vorbereitet, denn wir hatten Alternativen zur Verkehrsplanung erarbeitet, die kleinen Häuser sollten privatisiert und so erhalten werden, ein alternatives Verkehrskonzept war erarbeitet...

Im Rathausgespräch am 15. 10. 89 wird Klartext geredet, und am 15. 11. 89 konstituiert sich der Runde Tisch "Arbeitskreis Innenstadt", an dem Politiker, Fachleute und betroffene Bürger gemeinsam arbeiten, und schon in der ersten Sitzung wird ein Konsens über neue Prämissen in der Altstadt - Bau- und Verkehrsplanung erreicht. Das Büro des Stadtarchitekten zieht sehr bald mit, hatten doch die Architekten die Planungen oft genauso kritisch beurteilt, aber keine Alternativen gesehen. Am 22. und 23. 11. werden bei einer Begehung im Andreasviertel Abrisstop und Sicherung erhaltenswerter Gebäude vereinbart, und schon in der nächsten Woche beginnen Sicherungsarbeiten an mehreren Gebäuden im Andreasviertel in Wochenendeinsätzen durch Mitglieder der Bürgerinitiative, die ebenfalls damit beauftragten Firmen realisieren das in sehr unterschiedlicher Intensität.

Schwerer tun sich die Verkehrsplaner, in einer gemeinsamen Sitzung im “Büro für Verkehrs­planung bei der Stadtdirektion Straßenwesen” wird mühsam ein Kompromiss vereinbart, deutlich wird das an zwei unterschiedlichen Protokollen, die nach der Sitzung geschrieben werden. Aber der in der ersten Legislaturperiode des neuen Parlamentes erarbeitete “Verkehrsentwick­lungs­plan” bestätigt weitgehend die Ansichten der Bürgerinitiative, die Verkehrsplanung ist vom Gedan­ken der “(Auto-) verkehrsgerechten Stadt” abgerückt.

Wohl am bekanntesten wird die von der "Interessengemeinschaft Alte Universität" initiierte Men­schenkette um die Altstadt am 10. 12. 89. Aber auch zahlreiche Zeitungsartikel, Fernseh- und Rundfunkbeiträge bis hin zu der  "Aspekte"-Livesendung des ZDF aus dem "Roten Ochsen" Erfurt zur Denkmalpflege in der DDR am 26. 1. 90 machen das Andreasviertel und die sich jetzt als Verein konstituierte “Bürgerinitiative Altstadtentwicklung” bekannt. Am 11. 11. 91 wird ihr der "Deutschen Preis Für Denkmalschutz 1991" verliehen.

Aber die unzählige und aufwändige Arbeit in der Wende wurde mit der Aufstellung von 5 Kandi­daten auf Liste "Neues Forum / Grüne" zu den Kommunalwahlen 1990 fortgeführt. Neun Jahre habe ich die Anliegen im Bauausschuss vertreten, zeitweilig mit Unterstützung von Holger Reinhard und Dieter Stark. Inzwischen waren längst die “Kellerforscher” mit Gerd Schöneburg und Volker Düsterdick, die "Krämerbrückeninitiative" mit Egon Zimpel, dem Ehepaar Leuschner und Hannelore Reichenbach dazugekommen, auch das Feld des Engagements erweitert sich, z.B. mit dem Einsatz für die Reste der mittelalterlichen Stadtburg an der Schlösserbrücke, die dem C&A-Kaufhaus zum Opfer fallen, und dem Bahnhofs-Mittelgebäude.

Eine Bilanz zehn Jahre nach der “Wende” und dreizehn Jahre nach Gründung der Bürgerinitiative fiel nüchtern aus: vieles ist durch Rendite-orientierten Investitionen vernichtet worden oder konnte durch den politisch festgelegten Grundsatz “Rückgabe vor Entschädigung” und den daraus folgenden Problemen nicht verwirklicht werden. Dennoch wurde das grundsätzliche Umdenken in der Stadtentwicklung erreicht, und wenn inzwischen die Erfurter Altstadt eine der attraktivsten in Deutschland geworden ist, so verdankt sie das auch dem, was damals ganz klein begann.

            Matthias Sengewald