Die alltägliche „Erziehungsdiktatur“ DDR

Um die Diktatur der DDR zu begreifen, genügt es nicht, die offensichtlichen Merkmale wie das Ministerium für Staatssicherheit sowie die politische Justiz und Haft zu betrach­ten. Waren diese Repressionsinstrumente am Anfang der DDR oft noch brutal. geprägt vom sowjetischen Stalinismus, so änderte sich das deutlich mit dem Streben nach internationaler Anerkennung ab den 70er Jahren.Um die Diktatur in ihrer Wirkung zu begreifen, muss man sich klar machen, dass das politische Verständnis der SED-Regierung das gesamte gesellschaftliche bis hinein ins persönliche Leben durchzog. Die diffizilen Wirkungsmechanismen waren allgegenwär­tig, aber erst bei Abweichung von der vorgegebenen Norm wurden sie wirksam.

Am deutlichsten war das in allen Bereichen, in denen es der Staat mit Kindern und Jugendlichen zu tun hatte, denn die galt es „zu formen“. Lehrer waren „Sprachrohr des Staates“ und wurden als solche „geführt“, die Freizeitarbeit mit Kindern und Jugendli­chen, organisiert von hauptamtlichen Pionierleiter/innen und FDJ-Funktionären sollte vollständig unter staatlicher Kontrolle sein. In der Schule war das Fach „Staatsbürger­kunde“ ab der 7. Klasse Unterrichtsfach, die ideologische Erziehung durchdrang aber alle Fächer: Heimatkunde, Deutsch, „Geschichte“, Erdkunde, je selbst im Fremdspra­chenunterricht war das ab der 5. Klasse für alle obligatorische Fach Russisch von den „heroischen Erfolgen“ unseres sowjetischen „Brudervolkes“ geprägt und im Englisch- oder Französisch-Unterricht nahm der „Klassenkampf der Arbeiter und Bauern“ breiten Raum in den Texten ein. Ziel war es, „sozialistische Persönlichkeiten“, „überzeugte Marxisten“ (natürlich im Sinne der marxistisch-leninistischen SED), „klassenbewusste Staatsbürger“ und „patriotische Internationalisten“ heranzuziehen.

Dieses System ständiger staatlicher Bevormundung verlangte vor allem eines: Anpassung. Wer als Jugendlicher (und ebenso als Erwachsener) immer in den vorgegebenen Bahnen blieb und die Bestätigungsrituale vollzog, wenn auch innerlich ablehnend, hatte wenig zu befürchten. Der konnte es sich in der DDR gemütlich einrichten. Und viele haben den erzwungenen Verzicht auf eigene Meinungsäußerung, auf kritische Mitbestimmung und auf bürgerliche Freiheit und Eigenständigkeit zunehmend nicht mehr wahrgenommen.

Beweise opportunen Verhaltens wurden immer wieder in allen Lebensstufen abverlangt: Der Eintritt in die „Pioniere“ mit Schulbeginn und mit 14 Jahren in die „FDJ“; die Teil­nahme an der Jugendweihe, der Eintritt in die „Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft“, den „FDGB“ (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund). Ebenso die Teil­nahme an der immer weiter ausgebauten vormilitärischen Ausbildung, wie dem „Manöver Schneeflocke“ und an den „Hans-Beimler-Wettkämpfen“ in der Schule, in der Berufsausbildung bzw. der Abiturstufe die „GST-Ausbildung“ (Gesellschaft für Sport und Technik, vorwiegend auf vormilitärische Ausbildung ausgerichtet, bei der man aber z.B. auch die Fahrerlaubnis erwerben konnte)… Die Mädchen mussten an der Erste-Hilfe-Ausbildung des DRK teilnehmen, die Ausübung wurde unter militärischen Bedingungen geprobt, u.a. mit ABC-Waffen-Schutz. Wer eine verantwortliche berufliche Tätigkeit ausüben wollte, musste oft eine Erklärung abgeben, dass er keine Kontakte in das „NSW" (Nicht-Sozialistisches Währungsgebiet, also der „Westen“) hat oder von ihm wurde der Eintritt in die SED erwartet, und wer letzteres nicht wollte, trat dann behelfs­weise in eine der „Blockparteien“ wie die CDU ein (alle Parteien und wichtigen gesell­schaftlichen Organisationen waren in der „Nationalen Front“ zusammengeschlos­sen und auf einheit­liche Linie gebracht). Beim Studium, das für die Männer in aller Regel erst nach Ableistung des Wehrdienstes begonnen werden konnte, gehörte wiederum die militärische Reservistenausbildung zum Pflichtprogramm, und die Verpflichtung als „Reserveoffizier“ wurde erwartet.

Wer sich so als „Sozialistische Persönlichkeit“ erwartungsgemäß verhielt, wurde belohnt: Alle höheren Bildungswege und Karriereschritte wurden als vom Staat gewährte „Auszeichnung“, nicht als selbstverständliches Recht bei guten Leistungen gehandhabt.
Auf die EOS („Erweiterte Oberschule“ bis zum Abitur) kam nur, wer nicht negativ aufgefallen war, auch wenn sie oder er beste schulische Leistungen vorweisen konnten. Die Verpflichtung, als „Soldat auf Zeit“ (3. Jahre) oder Berufsoffizier seinen „Ehrendienst bei der Nationalen Volksarmee“ zu leisten, zeitweilig auch die Verpflichtung als Lehrer/in (!), war dagegen ein Türöffner für das Abitur und den gewünschten Studienplatz, selbst bei mangelnden Leistungen. Studienplätze wurden zentral vergeben, eine Ablehnung nicht begründet.

Aber wer abwich, wer seinen eigenen Weg gehen wollte, bekam die Diktatur zu spüren: „Tramper“, „Punker“ wurden wegen „asozialem Verhalten“ vor Gericht gestellt, ebenso diejenigen , die sich ausprobieren wollten und deshalb keinen festen Arbeitsplatz hatten. Wer die DDR „unberechtigt“ verlassen wollte sowieso, wer seine eigene Meinung vertrat oder sich als Christ bekannte, bekam ins Zeugnis geschrieben dass er sich noch „einen klaren Klassenstandpunkt erarbeiten“ müsse und musste damit rechnen, keine Zulassung zum Abitur, zum Studium, zu begehrten Berufsausbildungen zu bekommen.
Und wer gar die einzige legale Möglichkeit, den Waffendienst in der NVA zu verweigern in Anspruch nahm und „Bausoldat“ (Soldat in der NVA, aber ohne Waffenausbildung, nur ganz wenigen bekannt und außer in der kirchlichen Öffentlichkeit nirgends bekannt gemachte) wurde, hatte – bis auf ganz wenige Ausnahmen – keine Chance mehr, einen Studienplatz zu bekommen.   

Wer die oben aufgeführten Ergebenheitsbeweise nicht erbrachte, hatte damit von selbst die Begründung der „Ablehnung zur Zulassung“ gegeben: Er war der Auszeichnung nicht würdig.

Dennoch ist es der DDR-Führung nie gelungen, ihre Ideologie zur Weltanschauung aller zu machen. Der Großteil nahm die Anpassungsforderungen als „freiwillige Pflicht“ hin, ohne sie innerlich zu vertreten (im deutlichen Unterschied zur NS-Zeit, in der zumindest am Anfang der überwiegende Teil der Deutschen die Ziele der NSDAP bejahte). Und nicht vergessen werden darf, dass DDR-Bürger über ARD und ZDF oder die Radio­program­me allabendlich „in die Bundesrepublik auswanderten“.
Und gerade in ihren Exzessen zeigten sich immer wieder die Widersprüche auf, die zur Opposition provozierten: Als Kinder mit Plastetüten aus den Intershop-Läden, in denen man für (West-) D-Mark Produkte aus dem „Westen“ (die teilweise in der DDR hergestellt waren) kaufen konnte, in die Schule kamen, wurde ihnen das verboten, die Tüten konfisziert. Als Jugendliche sich das Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ (das eine als Geschenk der Sowjetunion  vor dem UN-Sitz in New York und in Moskau aufgestellte Skulptur darstellte und auf einen Bibelspruch zurückging) auf ihre Jacken nähten, wurden sie in den Schulen, teilweise sogar mit Hilfe der Polizei gezwungen, es wieder abzumachen. 

Es ist klar, dass eine vom Staat unabhängige Arbeit mit Kindern und Jugendlichen da keine Platz hatte, nicht haben durfte und deshalb immer wieder bekämpft werden musste. Die Gründung der „Freien Deutschen Jugend“ 1946 war noch ein gemeinsa­mes Projekt einer antifaschistischen, pluralistischen und humanistischen Jugendorgani­sation. Auch Evangelische und Katholische Kirche gehörten mit zu den Gründern. Aber die Ausrichtung als „Kampfreserve der Partei“ (der SED) wurde schnell deutlich: 1949 verließen die Christlichen Kirchen die FDJ. Die DDR-Regierung ließ von nun an nur den einen „einheitlichen Jugendverband“ zu. Das musste unweigerlich zum Konflikt führen, der die ganzen Jahre des Bestehens der DDR anhalten sollte: 1953 die Verfolgung der Jungen Gemeinde als „Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USA-Auftrag“, die Verfolgung der Rüstzeit(Freizeitfahrten)arbeit in den 60er Jahren, die ab den 70ern beginnenden Auseinandersetzungen um „Offene Arbeit“ und den Einsatz für „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“…
Dass sie nie ganz einfach verboten wurde, war wohl letztlich der unmittelbaren Nähe und den vielen persönlichen sowie kirchlichen Beziehungen zur Bundesrepublik geschuldet, die solchen Vorgängen in der DDR immer wieder zu negativer internatio­naler Öffentlichkeit verhalfen, und dies konnte die DDR-Führung auf ihrem Weg zur internationalen Anerkennung nicht gebrauchen.

Damit waren die kirchlichen die einzigen nicht integrierten Jugendzusammenschlüsse. Dass sie so zu Orten wurden, wo sich auch oppositionell Denkende versammelten, war fast zwangsläufig. Dass daraus aber zunehmend eine aktiv kritische Haltung erwuchs, die die DDR verändern wollte, war auch innerhalb der Kirchen keineswegs unumstritten. Staatliche Organe bekämpften vereint mit der immer mächtiger werdenden „Stasi“ die „Politische Untergrund-Tätigkeit“, immer wieder auch unbewusst oder sogar bewusst unterstützt von den kirchlichen Mitarbeitenden und Verantwortlichen, denen die Begren­zung auf das sakral-kirchliche wichtiger war oder die sich gar zu Helfershelfern der Stasi hatten machen oder erpressen lassen.  

Die anderen Jugendverbände waren bis Anfang der 50ziger Jahre in die Pionier- und FDJ-Organisationen als einheitlicher Jugendverband integriert. Diese Jugendarbeit war unmittelbar mit der Schule verflochten, vieles lief als „Arbeitsgemeinschaft“ in schuli­schen Räumen, nur weniges wurde über die Schule in anderswo stattfindende Gruppen des „DTSB“ (Deutscher Turn- und Sportbund der DDR), der „GST“ (Gesellschaft für Sport und Technik) u.a. vermittelt.
Pionierorganisation und FDJ und wurden so zu selbstverständlichen Teilen des schuli­schen Alltags. Damit fiel jede und jeder, die nicht Mitglied waren, sofort auf. Zunehmend wollten viele Eltern diese Außenseiterrolle ihren Kindern nicht mehr aufbürden, das erklärt, dass es immer weniger wurden. Genauso erklärt sich die ab Mitte der 70er Jahre beinahe vollständige Teilnahme aller Jugendlichen an der Jugendweihe.

Diesem Ritual am Beginn des Erwachsen-Werdens kam eine besondere Rolle in der Erziehungsdiktatur der DDR zu. Die Jugendweihe war u.a. in der Arbeiterbewegung entstanden, auch als Abgrenzung zu den damals sehr staatsnahen Kirchen. Die DDR verwendete sie ab den 50er Jahren als „Bekenntnis zur sozialistischen DDR“ in dem Sinne: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“, natürlich auch als „Gegenfeier“ zu den in den Kirchen üblichen Konfirmationen bzw. Firmungen. Anfangs sperrten sich die Kir­chen konsequent gegen diese staatliche Weihefeier und verlangten von ihren jugendli­chen Mitgliedern, nicht daran teilzunehmen. Später lenkten die Evangelischen Kirchen ein und gestatteten nach einem „Bedenk-Jahr“ die Nachholung der Konfirmation.
Um die Teilnahme möglichst aller Jugendlichen zu erreichen, wurde in den Schulen massiv für die Jugendweihe geworben. Waren die Jugendweihestunden noch nach der Schulzeit, so war die Jugendweihfahrt zu einer KZ-Gedenkstätte fest in den Schulablauf integriert und wurde mit der „feierlichen Übereichung“ der FDJ-Ausweise verbunden. Wer nicht teilnahm, musste Schulstunden absolvieren und war damit wieder Außen­seiter. Die Stellvertretenden Schuldirektoren waren gleichzeitig für die Durchführung der Jugendweihe verantwortlich.
Noch heute kann es passieren, dass in der DDR aufgewachsene Eltern in den Schulen fragen, wann denn die Jugendweihe stattfindet…

So wurde die Erziehungsdiktatur mit ihrer immer selbstverständlichen Verwurzelung im Alltag von einer steigenden Mehrzahl immer weniger wahrgenommen. Innerhalb der vorgegebenen Bahnen organisierten Jugendliche genauso wie Erwachsene ihr Dasein, suchten sie ihre Freiräume und lebten ihr Leben. Gleichzeitig ging das Bewusstsein für das „Unnormale“ daran mehr und mehr verloren.

Diese Haltung, sich anzupassen, nicht auffallen zu wollen und verbriefte Rechte nicht einzufordern, haben viele in der DDR aufgewachsene Bürger bis heute nicht abgelegt.
Aber jeder, der das kritisiert frage, sich selbst, ob er nicht genauso wäre, wenn er unter diesen Umständen der „Erziehungsdiktatur“ groß geworden wäre.

Nach oben

die "alltägliche Erziehungsdiktatur" in der DDR

aus: Matthias Sengewald, Kurzer Abriss der Geschichte der Evangelischen Jugendarbeit in der DDR bis heute. vollständiger Text