Von Wensierski, Peter

20 Jahre nach den legendären Montagsdemonstrationen von Leipzig streiten sich prominente Kirchenleute und weniger bekannte ehemalige Bürgerrechtsaktivisten um die Deutungshoheit über die damaligen Ereignisse. Wer hat wirklich die friedliche Revolution in der DDR eingeleitet?

Schon wieder er. Der Bundespräsident braucht in seiner Leipziger Festrede zum 20. Jahrestag der DDR-Revolution keine zwei Worte, um ihn zu erwähnen. So geht es seit Jahren schon. 1991 war es die Theodor-Heuss-Medaille, die er bekam, 1995 folgte das Bundesverdienstkreuz, 2005 der Augsburger Friedenspreis (zusammen mit Michail Gorbatschow) und 2008 schließlich noch die Hans-Böckler-Medaille. Er ist immer der Held. Aber warum? Warum ausgerechnet Christian Führer, der langjährige Pfarrer der Leipziger Nikolaikirche mit dem markanten Bürstenhaarschnitt und der ewigen Jeansweste?

Es ist eine Frage, die sie umtreibt. Auch als sie sich vor gut einer Woche im fahlen Schein der Glasleuchter im alten Kinosaal der Leipziger Stasi trafen. Gut hundert frühere Aktivisten kamen, viele von ihnen immer noch in selbstgestricktem Pullover und Parka, so wie damals vor 20 Jahren, als sie den Kern der legendären Leipziger Montagsdemonstrationen bildeten. Zum Festakt mit dem Bundespräsidenten im Leipziger Gewandhaus waren etliche von ihnen nicht eingeladen worden.

Männer wie Uwe Schwabe, den die vielen Rückblicke auf 20 Jahre Mauerfall erst gelangweilt und dann immer mehr verärgert haben. Weil sie den Mythos der friedlichen "Revolution, die aus der Kirche kam", den der Theologe Führer in seiner Autobiografie neu entfacht, nicht für die Wirklichkeit, sondern eben nur für einen Mythos halten.

Es ist nicht die Geschichte, die sie vor 20 Jahren erlebt haben. Deshalb können Schwabe und seine Mitstreiter die Ehrungen und Legendenbildungen um die "Helden" der Kirche kaum noch ertragen. "Da droht sich etwas im kollektiven Geschichtsbewusstsein zu etablieren, was mit der Realität der Ereignisse nicht mehr viel zu tun hat", sagt er.

In Leipzig ist ein Kampf um die Deutungshoheit der damaligen Vorgänge entbrannt, die unbestritten den Untergang der DDR einleiteten. Wer waren die wirklichen Helden? Kirchenmänner wie Führer, die zurückhaltend und vorsichtig agierten, um auf keinen Fall die Staatsmacht herauszufordern? Oder Aktivisten wie Schwabe, die auf die demokratische Erneuerung der DDR drängten und damit in den Augen der SED-Herrscher nichts weniger als die Machtfrage stellten?

20 Jahre nach dem Fall der Mauer werden noch einmal die alten Schlachten geschlagen. Und beide Seiten stehen sich so unversöhnlich gegenüber wie einst. Viele der späteren Initiatoren der Leipziger Demonstrationen werfen den Kirchenleuten vor, damals zu sehr gebremst zu haben. Für sie ist ein Montagnachmittag im August 1988 in der Leipziger Nikolaikirche ein Schlüsselereignis. An jenem Tag hatte Superintendent Friedrich Magirius am Ende der Andacht erklärt, dass die Basisgruppen, die seit Jahren montags für volle Kirchenbänke gesorgt hatten, nicht mehr an der Gestaltung des Friedensgebets mitwirken dürften.

Empört stürmten die jungen Männer und Frauen zum Altar, um eine Protesterklärung gegen die Zensur der Kirche zu verlesen, doch ihnen wurde das Mikrofon abgestellt. Jochen Läßig vom "Arbeitskreis Gerechtigkeit" versuchte dennoch, vom Altar aus weiterzusprechen.

Superintendent Magirius gab daraufhin dem Organisten auf der Empore ein Zeichen, und schon erstickte Orgelmusik den Protest gegen die Kirche. Ein junger Mann hechtete über die Kirchenbänke, kletterte die Balustrade hoch und zog den Stromstecker der Orgel. Pfarrer Führer sprang auf einen Stuhl, um die Leipziger Basisgruppen, darunter viele Theologiestudenten, kurzerhand aus seiner Kirche zu werfen. Die antworteten mit Pfiffen und Protestrufen. "Das sind keine Leute von uns", rief Führer in den Kirchenraum.

Die Stasi-IM vor Ort notierten: "Durch Pfarrer Führer wurden die Anwesenden mehrfach zum Verlassen der Kirche aufgefordert", was sie dann auch "mit Unmut und undiszipliniert" taten. Nach ihrem Rauswurf nutzten die Bürgerrechtler den Platz vor der Kirche, Passanten über Verhaftungen, Pressezensur und Aktionen in der ganzen DDR zu informieren.

"Wir wollten uns nicht länger von Pfarrern, die Angst hatten, bevormunden lassen", beschreibt Schwabe die damalige Gefühlslage. Heute ist er Mitarbeiter im Zeitgeschichtlichen Forum der Bundesstiftung "Haus der Geschichte" in Leipzig. "Wir wollten handeln und nicht auf ein Zeichen Gottes warten. Als die Kirche begann, uns zu disziplinieren, haben wir den öffentlichen Raum selbst erobert."

Die Leipziger Friedensgottesdienste waren schon seit dem Herbst 1982 von Basisgruppen gestaltet worden, die sich an dem Vorbild des damals noch in Dresden tätigen Pfarrers Christoph Wonneberger orientierten. Doch mit ihrer zunehmenden Politisierung wurde der Druck des Staats auf die Kirchenoberen immer größer.

Die Luftverschmutzung in der Region, die Atomkraft, die Verletzung der Menschenrechte in der DDR, der Verfall der Leipziger Altstadt und die wachsende Zahl von Ausreisewilligen waren Themen, die so brisant waren, dass sie nach dem Willen der Kirche bei den Friedensgebeten nicht mehr angesprochen werden sollten.

Drei Ausstellungstafeln zur Ausreiseproblematik wurden in der Nikolaikirche verboten, Texte zensiert, Fotos des Prager Frühlings 1968 von der "Klagemauer", einer Pinnwand in der Kirche, entfernt. In einem Protestbrief an Landesbischof Johannes Hempel schrieben acht Leipziger Bürgerrechtler: "Wir brauchen die Öffentlichkeit. Wir sehen uns als Gruppen nun nicht mehr nur von staatlicher, sondern auch von kirchlicher Seite ins Abseits gedrängt." Gesine Oltmanns, die immer in den ersten Reihen der Montagsdemonstranten zu finden war, sagt: "Auf Bischof Hempel und seine Superintendenten wurde Druck ausgeübt, den sie an uns weitergaben." Hempel sei aufgefordert worden, die Friedensgebete "mehr zu theologisieren".

Doch die Leipziger Aktivisten drängten auf Handeln statt auf Beten. "Wir wollten aus dem engen kirchlichen Raum ausbrechen und sahen in der Organisation von Demonstrationen eine neue Möglichkeit", erinnert sich Schwabe. Bereits im Juni 1988 verteilten sie Handzettel an die Leipziger und organisierten mit dem "Pleiße-Marsch" eine Umweltdemonstration.

Um die Staatsmacht nicht zu provozieren, distanzierte sich die Kirchenleitung umgehend von den Aktionen. Die Leipziger Superintendenten verlangten, die entsprechenden Plakate aus den Schaukästen der Kirchengemeinden zu entfernen. Außer Wonneberger marschierte kein anderer Pfarrer mit den 230 Demonstranten, die von der Polizei in Ruhe gelassen wurden.

Wonneberger und nicht Führer war der wichtigste Mann hinter den Friedensgebeten. Bis in den Sommer 1988 war er derjenige, der sie koordinierte. Dann bekam er einen Brief seiner Kirchenleitung. "Lieber Bruder Wonneberger ... Wir haben eine neue Gestaltung der Friedensgebete für die nächsten Wochen vorbereitet. Meinerseits stelle ich fest, dass Sie von Ihrer bisherigen Aufgabe entbunden sind."

Für Schwabe war das der Moment, "in dem die evangelische Kirche sich zum Handlanger der SED degradierte". Umso mehr ärgert es ihn, dass nicht Bürgerrechtler wie Wonneberger bei Erinnerungsfeiern im Rampenlicht stehen. Stattdessen würden Männer wie Führer geehrt oder der frühere Superintendent Magirius, der bereits 1990 die "Goldene Kamera" erhalten hatte, später Ehrenbürger von Krakau wurde und den Gustav-Heinemann-Bürgerpreis bekam, bei dessen Verleihung in der Frankfurter Paulskirche mehrere DDR-Bürgerrechtler ein Transparent hochhielten ("Revolutionsheld nach Sendeschluss").

Die Aktivisten von einst reagierten empört, als sie hörten, dass ausgerechnet Christoph Kähler, der frühere Rektor des Theologischen Seminars Leipzig, bei den Gedenkfeiern zum 9. Oktober in Anwesenheit des Bundespräsidenten ein Friedensgebet in der Nikolaikirche halten sollte. Dabei war er es, der nach jenem Tumult 1988 die Disziplinierung von beteiligten Theologiestudenten einleitete. Drei Sprecher der Gruppe "Gerechtigkeit" wurden zwei Monate später, nach einem Rektoratswechsel, vom kirchlichen Studium exmatrikuliert, weil sie angeblich kaum noch daran teilgenommen hätten.

In der Nikolaikirche ging es nach dem Montagstumult Ende August 1988 mit den Friedensgebeten zwar weiter, doch für die Gruppen war der Platz vor der Nikolaikirche fortan der wichtigere Treffpunkt. "Nach dem Vorbild der Danziger Brigittenkirche nahe der Werft und dem Prager Wenzelsplatz", sagt der damalige Aktivist Rainer Müller.

Allerdings wollten die Gruppen ihren Rauswurf aus der Nikolaikirche nicht widerstandslos hinnehmen.

Zwei Monate später, am 24. Oktober 1988, trugen die Basisgruppen ihren Protest noch einmal in die Kirche. Mit Kerzen und Transparenten zogen Aktivisten vor den Altar. Doch anders als seine evangelischen Kollegen zeigte sich der katholische Kaplan Hans-Friedel Fischer solidarisch und begrüßte jeden mit Handschlag.

Am Ende des Friedensgebets versuchte die junge Gesine Oltmanns, eine Erklärung vorzulesen. Doch wieder schaltete Superintendent Magirius das Mikrofon ab. Erneut kam es zu tumultartigen Szenen in der Nikolaikirche. Die Gruppen zogen nach draußen, verteilten Kerzen an die Passanten und nutzten die Betonplatten vor der Kirche als Rednertribüne.

Zwei Wochen später, am 9. November, ging vom Vorhof der Nikolaikirche ein nicht genehmigter Schweigemarsch mit Kerzen aus, an dem über 200 Leipziger zum Gedenken an die Pogromnacht 1938 zum ehemaligen Standort der größten Leipziger Synagoge zogen.

Doch Nikolaikirchen-Pfarrer Führer war mit den Flugblättern nicht einverstanden: "Wir können uns nur davon distanzieren." Und über die in seiner Kirche protestierenden Basisgruppen meinte er: "Was wir hier erlebten, lässt auch bei weitherzigster Auslegung den Begriff 'Friedensgebet' nicht mehr zu." Das sogenannte Fürbittengebet trage "zur Propagierung des Unglaubens, zu Tipps für das Verhalten bei der nächsten Wahl" bei und sei "zu provokativ-politischen Appellen entartet". Die Kirche werde so "zum Plenarsaal herabgewürdigt".

Führer tat alles, um Film- und Tonaufnahmen oder das Fotografieren durch westliche Journalisten in der Nikolaikirche zu verhindern. Ganz anders als Pfarrer Wonneberger und die Basisgruppen. "Unser Ding war es, immer alles öffentlich zu machen", sagt Wonneberger, in dessen Haus ein Kontakttelefon für die Aktivisten stand. So wie auch bei seinem Verbündeten, Pfarrer Rolf-Michael Turek.

Die beiden Seelsorger erlaubten von ihren Anschlüssen Gespräche mit Westmedien und Oppositionsgruppen in der DDR und ließen zu, dass in ihren Pfarrhäusern Flugblätter gedruckt werden konnten. Turek musste sich deshalb im Sommer 1989 zur "Klärung eines Sachverhalts" von der Stasi vorhalten lassen: "Seien Sie doch vernünftig, Herr Turek, und nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihren Kollegen." Doch Turek wollte nicht.

Magirius sagt, er habe eine Entchristlichung der Friedensgebete damals nicht tolerieren wollen. Führer bestreitet heute nicht, was vorgefallen ist. Doch nicht er habe sich nach der Wende in den Vordergrund gespielt, es seien die Medien gewesen, die ihn als "den Geistlichen" bezeichnet hätten, der der "SED-Macht die Stirn bot". Das habe er zwar auf seine Art auch getan, selbst wenn er damals "Tag und Nacht Angst" gehabt habe. Doch für ihn habe Jesus im Mittelpunkt gestanden und nicht der Umsturz.

Und er habe sich auch nicht als "Initiator der Friedensgebete" dargestellt, sondern nenne sich allenfalls ein "ständiger Begleiter und Betreuer". Die Basisgruppen seien damals zwar verärgert gewesen, doch es habe Friedensgebete gegeben, "die nur scharfe politische Veranstaltungen waren und dem Staat die erwünschte Steilvorlage" für die Behauptung lieferten, "die Gebete hätten nichts mit der Kirche zu tun, sondern seien blanke staatsfeindliche Hetze". Als die Situation Ende August 1988 eskalierte, habe die Gefahr bestanden, dass der Staat einen Vorwand zum Eingreifen bekommen hätte. Deshalb habe er die Gruppen gebeten, die Kirche zu verlassen, sie aber nicht hinausgeworfen. Im Frühjahr 1989 habe er sie wieder hineingeholt.

Tatsächlich spielte der Kirchhof mit den Aktivisten draußen vor der Nikolaikirche in den Monaten bis zum Herbst 1989 aber die entscheidende Rolle, "nachdem wir uns aus der Bevormundung der Kirchenleitung gelöst hatten", sagt der Ex-Theologiestudent und heutige Historiker Müller. Von hier aus zogen schon am 1. Mai des Revolutionsjahrs 200 Leipziger quer durch die Innenstadt. Ohne dass die Volkspolizei eingeschritten wäre. Von da an fand jeden Montagabend eine Demonstration statt oder der Versuch dazu.

"Dieser Rauswurf war es im Grunde, der eine Kommunikation zwischen jungen Oppositionellen und der Bevölkerung erzwang", glaubt der SPD-Bundestagsabgeordnete Gunter Weißgerber heute, damals einer der Hauptredner der Montagsdemonstrationen: "Ohne 'die nach draußen Gewiesenen' auf dem Nikolaikirchhof würden 'die da drinnen' vielleicht noch immer in der Nikolaikirche beisammensitzen und Fürbittgottesdienste und Friedensgebete innerhalb der DDR abhalten."

PETER WENSIERSKI

DER SPIEGEL 43/2009
19. 10. 2009
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