Der neue Stasi-Bundesbeauftragte Roland Jahn im Interview

Der neue Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU), Roland Jahn, bei seiner Amtseinführung in Berlin. Foto: dapd

Der neue Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, hat den Konflikt um die künftige DDR-Gedenkstätte in Erfurt kritisiert. Opfer, Historiker und Politiker sollten "sich nicht im Klein-Klein verhaken", sagte er am Freitag unserer Zeitung.

Herr Jahn, Sie sind am Freitag nach Gera zur Beerdigung von Andreas Bley gekommen. Es war mir wichtig, auch in meiner ersten Amtswoche mich von Andreas Bley gebührend zu verabschieden. Ich habe ihn Anfang 1990 kennengelernt, hier in Gera, bei der Besetzung der Stasi-Bezirksdienststelle. Er war für mich immer ein Vorbild, mit seiner ruhigen, besonnenen, aber auch leidenschaftlichen Art. Wenn ich heute sage, dass ich Anwalt der Opfer sein möchte, dann habe ich das bei ihm gelernt. Er hat sich um die Betroffenen gekümmert, und er war ein Aufklärer - gerade für die Jugend.

Kurz vor seinem plötzlichen Tod Anfang März hatte Bley noch eine Kooperation mit Schulen begonnen. Ich war ja hier in Thüringen mit ihm gemeinsam in Schulen unterwegs. Er hat neue Wege zu den Schülern gesucht und gefunden. Das ist sein Verdienst. Er hat aus der Außenstelle der Behörde eine Schule der Demokratie gemacht.

Bley stand als Leiter seit vielen Jahren für diese Außenstelle - die nun in Frage steht. Was sagen Sie zu Plänen, die Beratung und Archive stärker zu zentralisieren? Gewiss gibt es materielle Zwänge, mit denen ich mich noch beschäftigen muss. Aber eines ist sicher: Ich bin ein Anhänger der regionalen Aufarbeitung. Gerade in den Außenstellen können wir Bürgernähe garantieren. Gerade hier ist die Stasi und die DDR-Geschichte nicht abstrakt, hier wird sie sehr konkret. Auch die Archive sollten dort bleiben, wo sie sind.

Wie lange aber wird der Bedarf noch da sein? Kommt nicht doch irgendwann der sogenannte Schlussstrich? Die persönliche Akteneinsicht hilft den Opfern, Genugtuung zu erlangen. Sie darf kein Ende haben, unsere Zahlen zeigen das. Allein im letzten Jahr haben über 87.000 Menschen Akteneinsicht beantragt. Wann die Überprüfung des öffentlichen Dienstes auf Stasi- Mitarbeit beendet werden soll, das muss die Gesellschaft beantworten. Bisher jedenfalls wollen es die Menschen nicht hinnehmen, dass die Täter, die die letzten 20 Jahre logen und sich weiter versteckten, jetzt davonkommen.

In Ihrer Behörde sind 47 stasibelastete Mitarbeiter angestellt, die aber eher zum unteren Personal gehören. Warum sollen Sie trotzdem gehen? Ich habe das in meiner Antrittsrede gesagt. Ich weiß aus meinen vielen Gesprächen mit Opfern, dass es ein Schlag in ihr Gesicht ist, wenn in der Behörde Menschen arbeiten, die hauptamtlich für die Staatssicherheit tätig waren. Das ist die Empfindung der Opfer. Auch Wachleute wussten, was sie taten. Sie wussten, dass sie dabei mithalfen, Menschen zu unterdrücken.

Und wenn Sie bereuen? Ihr Freund Jürgen Fuchs sagte einmal: Wahrheit schafft Milde. Ja, Wahrheit schafft Milde. Aber hier geht es um eine Institution, die die Verbrechen der Täter aufarbeitet. Da können doch diese Täter nicht dabeisein. Nein, wer wirklich bereut, würde nicht bei uns arbeiten. Der würde spüren, dass er nicht als Wachmann die Opfer von einst begrüßen kann. Im Übrigen: Die Opfer entscheiden, wann der Zeitpunkt der Vergebung da ist.

Die Opfer entscheiden lassen - das wird auch in Erfurt gefordert, wo im vormaligen Stasi-Gefängnis eine Gedenkstätte entsteht. Sollten Zeitzeugen über das Konzept befinden oder doch Historiker? Ich möchte mich da nicht einmischen. Zwei Dinge gelten aber grundsätzlich. Erstens: Es ist unabdingbar, dass die Zeitzeugen einbezogen sind. Und zweitens: Es ist ebenso wichtig, dass eine historische Systematisierung, eine wissenschaftliche Einordnung und eine professionelle Vermittlung stattfinden. Das muss alles zusammenkommen. Deshalb sollte man sich nicht im Klein-Klein verhaken sondern immer daran denken, dass es ein gemeinsames Ziel gibt: Aufzuklären über das, was diese Diktatur namens DDR bedeutet hat.

Sie sind in Jena geboren, haben in Gera im Stasi-Gefängnis gesessen. Wie ergeht es Ihnen, wenn Sie aus Berlin hierher kommen? Es ist wie eine Heimkehr. Wenn ich nach Thüringen fahre, denke ich immer an damals. Ich erinnere mich an das Schlechte, an die Verfolgung, die Verhaftungen, die Verhöre - und natürlich die Abschiebung. Aber ich erinnere mich auch an das Gute. Ich weiß noch, wie wir hier Fußball spielten, die Langhaarigen aus Jena gegen die aus Gera. Wir sind zu Rockkonzerten getrampt. Wir haben auch in der DDR gelacht. Das war meine Jugend, und sie war schön, trotz Diktatur.

Sie wurden 1983 gegen Ihren Willen aus der DDR abgeschoben. Viele ihrer Freunde, etwa jene vom "Weißen Kreis", wären gerne freiwillig ausgereist. Warum wollten Sie bleiben? Das ist mein Anspruch an Freiheit: Jeder muss da leben können, wo er möchte. Ich wollte ja auch nicht unbedingt in der DDR-Diktatur leben. Ich wollte meine Heimat nicht verlassen. Das ist ein Unterschied. Auch jene, die freiwillig ausreisten, haben es sich nicht einfach gemacht. Sie verließen ihre Eltern, ihre Freunde, sie gaben das auf, was ihnen lieb war. Das zeigt doch gerade, wie schlimm dieses System war.

Im April ist es 30 Jahre her, dass ihr Jenaer Freund Matthias Domaschk im Geraer Stasi-Gefängnis starb. Das MfS sprach von Suizid, auch nach der Wende wurde kaum jemand bestraft. Zeigt das nicht die Vergeblichkeit von Sühne? Es gab Strafverfahren, die mit kleineren Geldstrafen endeten. Ich will nicht spekulieren, was damals in der Zelle geschah. Für mich ist nur eines wichtig: Ein junger, lebenslustiger Mann wurde in ein Gefängnis der Staatssicherheit geschleppt, aus dem er nicht mehr lebend heraus kam.

Was hat Domaschks Tod damals in Jena bewirkt? Für mich bedeutete er das endgültige Ende der Feigheit. Die vielen Kompromisse, die man einging, um nicht gleich weggefangen zu werden: Das war nun vorbei. Ich wusste ab dem Moment, dass es keine Spielchen mehr sind. Es ging um Leben und Tod.

Dennoch, viele Menschen bezweifeln heute noch, dass die Stasi Menschen tötete. Auch als Jürgen Fuchs mit nicht einmal 50 an einem seltenen Krebs starb, wollten viele nicht die Möglichkeit sehen, dass er während der Haft gezielt verstrahlt worden war. Wissen Sie, ich habe ja viele Jahre als Journalist gearbeitet, ich weiß, dass ich mich an Fakten zu halten habe. Deshalb ist es ja so gut, dass wir die Akten haben und dass die Zeitzeugen uns berichten. Nur so können wir begreifen, wie die Diktatur funktionierte - und nur so können wir die Demokratie besser gestalten. Das ist praktische Lebenshilfe, etwa bei Fragen, die sich auch heute noch jeden Tag stellen: Soll ich mich anpassen? Oder soll ich widersprechen? Da kann man lernen aus einer Diktatur.

Wenn Sie heute als frisch gewählter Bundesbeauftragter zurückdenken an den 8. Juni 1983, als sie gefesselt in Probstzella in den Zug in den Westen gesetzt wurden: Ist da nicht auch Triumph? Sagen wir mal so: Ein Hauch Genugtuung ist dabei. Aber da kann ich nicht stehenbleiben. Ich muss jetzt meine Arbeit machen, mich um die Opfer und die Akten kümmern. Ich werde das ruhig und besonnen tun, aber immer mit einem Lächeln im Gesicht. Denn wir dürfen bei all dem Schrecklichen, was passiert ist, niemals verbittern.

Zur Person: Der Chef der Jahn-Behörde

  • Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen (BStU), Roland Jahn. Foto: Michael Gottschalk/dapd

Roland Jahn wurde 1953 in Jena geboren und studierte dort Wirtschaftswissenschaften. Nachdem er am 1. Mai 1977 ein leeres weißes Plakat trug, wurde er exmatrikuliert. Mit immer neuen Aktionen brachte er den Staat gegen sich auf. 1982 saß er sechs Monate im Gefängnis, kam erst nach Protesten in Westdeutschland frei. Er gründete die Jenaer Friedensgemeinschaft mit, die mit Demonstrationen auf sich aufmerksam machte. 1983 wurde er verhaftet und abgeschoben. Jahn wurde im Westen neben seinem Freund, dem Lyriker Jürgen Fuchs, die wichtigste Stimme des DDR-Widerstands. Er arbeitete für Zeitungen und Rundfunksender, zuletzt viele Jahre beim ARD-Magazin "Kontraste". Am 14. März trat Jahn die Nachfolge von Marianne Birthler als Bundesbeauftragter für die Stasiunterlagen an.