Die Ökumenische Versammlung als Teil und Akteur des politischen Umbruchs 1989

Dr. Heino Falcke

 

Zuerst bedanke ich mich für die Einladung zu diesem Vortrag. Ich bin ihr gern gefolgt, denn die ökumenische Versammlung der Kirchen in der DDR für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung gehört für mich zu den größten und schönsten Erfahrungen, die ich mit der Ökumene und der politischen Verantwortung der Kirche in der DDR gemacht habe. Freilich umschließt diese Erfahrung auch Widersprüchliches und sie hat auch widersprüchliche Deutungen gefunden, die bei diesem Kolloquium zur Sprache kommen werden. Ich nenne nur zweierlei.

Die ökumenische Versammlung brachte einen Durchbruch zu einer intensiven ökumenischen Gemeinschaft. Viele erlebten sie als ein Wunder des Pfingstgeistes. Einer der beteiligten katholischen Theologen definierte sie als „Handlungsgemeinschaft noch getrennter Kirchen“. Nach dem politischen Umbruch aber, den diese Versammlung mit ausgelöst hatte, war diese Erfahrung kirchenpolitisch wie ausgelöscht, eine Rekonfessionalisierung setzte ein.

Die ökumenische Versammlung wirkte mit ihren sozialethisch-politischen Forderungen und Vorschlägen in die Anfänge der Herbstrevolution hinein. Das ist vielfach bezeugt und auch zu belegen.[1] Aber bezog sich diese Wirkung doch nur auf den Systemwechsel vom Sozialismus zur Demokratie, wie Katharina Kunter meint, während die Ziele Gerechtigkeit, Friede, Schöpfungsbewahrung illusionäre Träume blieben, oder ist auch ihre politische Wirkung  zu vernachlässigen, wie offensichtlich die Autoren meinen, in deren Darstellung der Kirche im politischen Umbruch die ökumenische Versammlung gar nicht oder nicht mehr erscheint ( Claudia Lepp, jetzt auch E. Neubert 2008 )?

Ich möchte meinen Überblick in drei Gedankengänge gliedern:

  • Die dreifache Vorgeschichte der Ökumenischen Versammlung
  • Der  Ansatz der Ökumenischen Versammlung „von unten“
  • Die ökumenische Versammlung im Übergang von Kirche zur Politik

Die dreifache Vorgeschichte der Ökumenischen Versammlung

An erster Stelle ist hier die ökumenische Bewegung zu nennen. Der Weltrat der Kirchen hatte bei seiner Vollversammlung in Vancouver 1983 den „Konziliaren Prozess für „Gerechtigkeit, Frieden und Schöpfungsbewahrung“ angestoßen. Dabei war die globale Dimension der Krise im Blick, die sich aus atomarem Holocaust, Weltwirtschaftlicher Ungerechtigkeit und zivilisatorischer Naturzerstörung zusammenballte. In diesem global-ökumenischen Zusammenhang verstand sich die Ökumenische Versammlung und muss sie verstanden werden. Als wir im Sommer 1987 den Aufruf verfassten, der um Vorschlägen für die Versammlung warb, knüpften wir an Vancouver an: „Eine Hoffnung lernt gehen – Gerechtigkeit den Menschen, Friede den Völkern, Befreiung der Schöpfung“ und wir schrieben, es sei der Sinn unserer Versammlung, „im eigenen Haus zu verwirklichen, was wir von einer ökumenischen Weltversammlung erwarten“.

Dieser Aufruf weckte die Resonanz der über 10.000 Zuschriften an die Versammlung, er hatte in seiner Verbindung des globalen mit dem lokalen offensichtlich motivierende Kraft. Die ökumenische

Anbindung erfüllte aber auch eine legitimatorische Funktion sowohl in der Kirche als auch gegenüber dem Staat. Für die Kirchen im Mauerstaat DDR war der Weltrat der Kirchen das Tor zur Weltchristenheit und darum von hohem Stellenwert. So konnte die Initiative zur Ökumenischen Versammlung, die ja nicht vom Kirchenbund ausging, doch auf positive Reaktion bei ihm rechnen, weil sie ein Teil des Konziliaren Prozesses des Ökumenischen Rates war. Der DDR-Regierung lag zwar nichts am Konziliaren Prozess, er wollte jedoch auf der internationalen Bühne  in Genf konziliant und tolerant erscheinen, und so konnte bei ihm auf  Duldung hoffen, was vom ÖRK kam.

Ohne die Verknüpfung global-lokal ist aber auch die Wirkungsgeschichte bzw. der Wirkungsverlust der Ökumenischen Versammlung gar nicht zu verstehen. Der globale Horizont entschwand, als die Revolution die Massen ergriff und mit dem Mauerfall die deutsche Einheit zur greifbaren Möglichkeit wurde, und im Glück und Stress des Vereinigungsprozesses verblasste er vollends.

 Erst einige Zeit nach der Vereinigung kam ins ostdeutsche Bewußtsein, dass wir mit der Vereinigung nicht nur in der Bundesrepublik, sondern in einer globalisierten Welt angekommen sind und an ihren Wirtschafts- ,

Sicherheits- und Klimaproblemen teilhaben. Das Globale und Lokale verhielten sich im Herbst 89 nicht wie Utopie und Realität  – so wird es oft dargestellt – sondern beides verhielt sich ungleichzeitig zueinander. Ich komme später noch einmal darauf zurück.

 

Der zweite Strang der Vorgeschichte ist der Kirchliche, genauer: der Konflikt zwischen Kirchen und gesellschaftskritischen Gruppen. Es ist zu einfach, wenn man ihn als den Konflikt zwischen politisch angepassten Kirchenleitungen und oppositionell handelnden Gruppen sieht. So wurde er oft erlebt, und natürlich war es auch ein Stück weit so. Ich habe mich damals schon bemüht, diese emotional und von Mißtrauen bestimmte Sicht zu versachlichen[2]. Hinter dem Konflikt standen unterschiedliche Strategien. Die Kirchenleitungen verfolgten – bestärkt durch das Spitzengespräch vom 6. März 78 – eine Gesprächsstrategie auf den vom Staat vorgegebenen Ebenen. Veränderungen der Gesellschaft seien im System des demokratischen Zentralismus nur von oben nach unten und im Gespräch zu erreichen. Die Ostpolitik der Bundesregierung verfuhr ja genau so. Diese Gesprächsstrategie musste Störungen möglichst vermeiden, sie war eine Konfliktvermeidungsstrategie.

Dagegen betrieben die Gruppen eine Strategie der Konfliktinszenierung. Sie meinten, Veränderungen seien nur durch Druck auf die Regierung, auch unter Einschaltung der Westmedien zu erreichen.[3] Der Streit zwischen diesen beiden Konzepten war gerade darum unvermeidbar, weil beide Seiten ihre Berechtigungsmomente hatten. Nur hätte der Konflikt offener und partnerschaftlicher ausgetragen werden müssen. Hierfür konnte die Ökumenische Versammlung eine Schlüsselfunktion wahrnehmen. In ihr trat ein ganz neues Handlungssubjekt auf die kirchenpolitische Bühne. Es erwies sich als sehr günstig, dass sie institutionell an eine kirchenpolitisch fast bedeutungslose Institution, die Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen angebunden wurde. So konnte  ein Delegierungsschlüssel vereinbart werden, nach dem etwa 25 % der Delegierten aus den Gruppen kamen. Die saßen nun auf Augenhöhe neben Oberkichenräten. In einem relativ machtfreien Raum konnten die Anträge aus Gruppen und Kirchen in einen offenen Gesprächsprozess gebracht werden. Harald Wagner beschreibt das aus Sicht der Gruppen so: „Der konziliare Prozess für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung war der wirkungsvollste Schritt auf dem Weg eines Zusammengehens von Gruppen, Gemeinden und Kirchenleitungen unter der Verheißung des Evangeliums und heraus aus Angst und Reglementierung.“ ( Wagner, 114)

Die ökumenische Versammlung geriet damit freilich unter zweifachen Beschuss. Der Staat warf der evangelischen Kirche vor, die ökumenische Versammlung diene dazu, die Basisgruppen kirchlicherseits zu legitimieren statt sie – wie schon lange gefordert – zu disziplinieren oder auszuschließen. Die Konferenz der Kirchenleitungen aber tat sich schwer damit, ihr kirchenpolitisches Handlungsmonopol auch nur ein Stück weit an dieses neue Handlungssubjekt abzutreten. Bischof Gienke bezeichnete es bei einem Treffen mit den niederländischen Kirchen in Amsterdam als gefährliche Schwäche, dass die Kirchenleitungen den Prozess für eine entscheidende Phase aus den Händen gegeben hätten[4].

Die Akten zeigen jetzt, in welche Zwielichtigkeiten sich Kirchenleitende mit Äußerungen zur ökumenischen Versammlung gegenüber Staatsvertretern verwickelten ( Ziemer, 26 ). Die katholische Bischofskonferenz suchte sich gegenüber den Unberechenbarkeiten dieser Versammlung dadurch etwas abzusichern, dass sie auf dem Ausschluss der Öffentlichkeit von den Sitzungen der Versammlung bestand.

 

Zur Vorgeschichte, ohne die unsere Ökumenische Versammlung nicht zu verstehen ist, gehört schließlich die Eskalation der gesellschaftlichen Widersprüche in der DDR der achtziger Jahre. Mit Gorbatschows neuer Politik bekamen die Hoffnung auf eine Veränderung des Sozialismus zum Besseren eine realpolitische Chance. Aber gerade weil die Hoffnung wuchs, rieb man sich an den verkrusteten DDR-Verhältnissen umso schmerzlicher wund. Es wuchs so etwas wie ein Veränderungsstau auf. Die Widersprüche eskalierten im Jahr 1987: Kohl empfing Honecker in Bonn, der SPD-SED- Dialog wurde im ND publiziert, beim OLOf-Palme –Friedensmarsch gingen Genossen und Christen zusammen, aber schon im März hatte Hager eine Perestroika für die DDR öffentlich abgelehnt, die Anträge auf Ausreise aus der DDR nahmen zu, der Druck auf die Gruppen verschärfte sich, Kontakte mit Polen wurden behindert, die Proteste gegen die Abgrenzungspolitik wurden lauter. Bei der Synode des Kirchenbundes im September spiegelten sich beide Tendenzen in dem friedensethischen Beschluss einer Absage an das Abschreckungssystem einerseits und dem Antrag, eine Absage an die Abgrenzungspolitik zu beschließen, andererseits. Der Konflikt zwischen Staat und oppositionellen Gruppen eskalierte dann im November, als Polizei die Umweltbibliothek in der Zionsgemeinde schloss, und im Januar 88 mit den Verhaftungen  bei der Rosa Luxemburg Demonstration. Im Februar 88 trat dann die Ökumenische Versammlung zu ihrer ersten Tagung zusammen.

Der Veränderungsstau, den ich eben skizzierte, erzeugte die Stimmung: So geht es nicht weiter, die Dinge treiben auf eine Entscheidung zu, wir müssen etwas tun. Ich denke, dieses Gefühl hat auch zu dem ökumenischen Wunder der Ökumenischen Versammlung geholfen. Die Kirchen konnten sich dem Handlungsdruck der Situation nicht entziehen, sie überwanden die konfessionellen Gräben und nach langem Zögern stimmte auch die katholische Bischofskonferenz zu. Entsprechendes vollzog sich auf europäischer Ebene und führte im Mai 89 zur europäischen ökumenischen Versammlung in Basel.

 

Der  Ansatz der Ökumenischen Versammlung „von unten“

Von unten, d.h. von den Basisgruppen her bekam die  Ökumenische Versammlung ihr oft beschriebene überraschende Dynamik. Sie ging  von denen aus, die im Erfahrungs- und Konfliktfeld des realsozialistischen Alltags lebten. Dem entsprach auch das  Konzept unserer Versammlung, bei der Situation, dem Kontext der gesellschaftlichen Erfahrung einzusetzen. Vielen aus den Basisgruppen waren wir noch zu abgehoben kirchlich und wirklichkeitsfern. Sie artikulierten das in den Begegnungszentren. Aber immerhin, wir eröffneten die erste Tagung in noch öffentlicher Sitzung mit den „Zeugnissen der Betroffenheit“. Ein Physiker und ein Psychotherapeut trugen ihre Gesellschaftsanalysen vor, zum ersten Mal in der DDR wurde der ökologische Skandal des Uranbergbaus bei Ronneburg öffentlich gemacht, um nur drei  dieser Zeugnisse zu nennen. Das war noch nicht wie bisweilen später „Betroffenheitsrhetorik“, sondern die Kompetenz der Betroffenen kam zu Wort und durchbrach das verordnete Schweigen. In den Texten der Arbeitsgruppen setzte sich das fort.

Ich denke es ist bemerkenswert, dass sich hier die Kirchen mit einem zivilgesellschaftlichen Aufbruch verbündeten. Der Protestantismus jedenfalls hatte sich durch Jahrhunderte hindurch am Staat als seinem Gegenüber orientiert und das war im großen und ganzen auch in der DDR

so gewesen. Auch nach dem Wechsel von Honecker zu Krenz versuchte dieser noch einmal, die Kirche in die Partnerschaft mit der Regierung zurückzuholen. Aber die Kirchenleitungen hatten inzwischen begriffen, was sie an der ökumenischen Versammlung und ihrem Bündnis mit  Erneuerungskräften der Zivilgesellschaft hatten. Das setzte sich dann in den Runden Tischen fort. Die Initiative zu ihnen kam aus den Gruppen und zwei ihrer drei Moderatoren  aus der ökumenischen Versammlung. Ich denke, die Kirchen sollten diese neue Erfahrung mit der Zivilgesellschaft für ihre heutige und künftige gesellschaftlich-politische Rolle und Funktion nicht vergessen.

 

Aber auch für unser theologisches Konzept wählten wir den kontextuellen Ansatz, wie wir ihn aus der ökumenischen Bewegung, vor allem aus der Befreiungstheologie kannten, aber auch aus der sozialgeschichtlichen Bibelauslegung.

Das zeigt sich mehr oder weniger an allen Arbeitsgruppentexten, vor allem aber und programmatisch am Text der theologischen Grundlegung. Ihr erster Satz lautet: „Die ökumenische Versammlung der Christen und Kirchen in der DDR hat sich bei ihrer ersten Vollversammlung der heutigen Weltsituation zugewandt, um gemeinsam die Herausforderung Gottes an uns  wahrzunehmen.“ Das Evangelium als lebendige heutige Stimme und die Situation erschließen sich im wechselseitigen Befragen und Hören. So wurde uns der biblische Ruf zur Umkehr zum Schlüsselwort für die heutige Situation (Grundlegung 1.3 ).

Es ist aufschlußreich zu fragen, welche Funktion die Theologie in der ökumenischen Versammlung eigentlich wahrnahm.

Wir wissen heute, dass die Stasi auf verschiedenen Wegen die „Theologisierung“ der ökumenischen Versammlung betrieb ( Ziemer, 52). Theologisierung war eine ihrer gängigen Strategien. Sie meinte Entpolitisierung, Verkirchlichung, binnenkirchliche Selbstbeschäftigung und damit gesellschaftlich-politische Irrelevanz. Als jedoch bei der zweiten Versammlung in Magdeburg der Text der theologischen Grundlegung vorlag, stellten Berichterstatter sichtlich überrascht fest, dass ausgerechnet die theologische Grundlegung zu konkreten Forderungen nach Umgestaltung der DDR führe. Gerade die Theologie der Versammlung erwies sich als politisch relevant, ja brisant. Das war ihrem kontextuellen Ansatz zu verdanken, der die biblische Überlieferung als aufschlußreiches, befreiendes und orientierendes Wort für heute zur Sprache brachte.

Dieses theologische Konzept ermöglichte der Versammlung auch ein gemeinsames Sprechen. Nicht geholfen hätte uns eine Theologie, die von konfessionellen Traditionen ausgeht und der Identitätswahrung der Kirchen dient im Sinne einer konfessionellen Abgrenzungsidentität nach außen. Denn in dieser Versammlung mussten die Kirchen über sich hinausgehen, nicht nur ökumenisch aufeinander zu, sondern in eine  Situation der Weltverantwortung hinein, die teilweise wirklich neu und ohne Präzedenz in den konfessionellen Traditionen war. Das hieß auch: hinein in die Kooperation mit den innovativen Gruppen und Kräften, die sich aus anderen Motivationen heutiger Zukunftsverantwortung stellten.

Wir brauchten eine Theologie, die zu aktueller Weltverantwortung motivierte und anleitete. Wirklich Theologie, nicht nur Sozialethik! Eine Theologie, die ein Befreiungsgeschehen anzeigt, spirituelle Quellen der Erneuerung und des Aufbruchs erschließt, nicht nur ethische Postulate und Appelle formuliert. Wir standen ja noch vor dem großen mitreißenden Aufbruch des Herbstes und uns drückte der Zweifel: Können wir überhaupt etwas bewegen.

 

Die ökumenische Versammlung im Übergang von Kirche zu Politik

Unsere Versammlung hatte ein kirchliches Mandat und kirchlich Delegierte, sie wollte die Kirchen zum Handeln bewegen. Das „Wort“ der Versammlung begann mit der konventionellen christlichen Anrede: „Liebe Schwestern und Brüder in Christus“. Zugleich, ja eben darin bewegte sie sich aber im Übergang zur Gesellschaft. Deren Fragen hatten wir auf unsere Tagesordnung gesetzt, wir mischten uns ein in den Diskurs von Kulturkritik, Abrüstungspolitik und Wirtschaftsfragen. Wir verbanden eine theologisch-kirchliche mit einer sozialethisch-gesellschaftlichen Zielsetzung, machten diese Verbindung sogar theologisch verpflichtend

und stießen zu konkreten Handlungsempfehlungen vor. Wir suchten zwischen  den Versammlungen auf Arbeitsgruppenebene das Gespräch mit Experten aus den gesellschaftlichen Fachbereichen, freilich mit begrenztem Erfolg. Kein Wunder also, dass die Versammlung manchen in der Kirche viel zu politisch erschien ( „Kirche muss doch Kirche bleiben!“), und manchen in den Gruppen viel zu kirchlich und also viel zu partikular, um die Gesellschaft im ganzen zu betreffen.

Der Staat sah, wie die Akten zeigen, sehr früh den Übergang ins politische. Als die ersten Texte vorlagen, warnte das MFS, hier läge der „aktuellste komplexe Forderungskatalog hinsichtlich politischer Veränderungen in der DDR“ vor ( Ziemer, 42  ).

Der Konflikt um diesen Übergang brach dann vor allem an der Arbeitsgruppe drei „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“ aus. Das lag gar nicht so sehr am Inhalt ihres Textes, wie heute oft gesagt wird. In anderen Texten steht mindestens ebenso brisantes, aber die Arbeitsgruppe mit diesem Thema zog natürlich die politische und kirchenpolitische Aufmerksamkeit besonders auf sich. So wurde bei der dritten Tagung von staatlicher Seite sogar die Rücknahme dieses Textes gefordert, was ihm dann aber in der Versammlung einen besonderen Abstimmungserfolg bescherte. Der Staat versuchte die Sorge einiger Kirchenleitungen, die Versammlung könne das legitime politische Mandat der Kirche überschreiten, für eine kirchliche Disziplinierung der Versammlung zu instrumentalisieren – im ganzen ohne Erfolg.

 

Hier lag aber durchaus ein Sachproblem. Mir begegnete es , als ich zusammen mit einer katholischen Delegierten in Erfurt von der ersten Tagung der Versammlung berichtete. In der großen Zuhörerschaft saßen natürlich Spitzel und Provokateure. Vermutlich war es einer der Letzteren, der mich fragte: „Will die Kirche jetzt zur politischen Opposition werden?“ Ich habe darauf geantwortet, die Kirche müsse zwar nicht selten Opposition machen, sie könne aber nie zur politischen Opposition werden, weil sie dann zur politischen Partei mit der Option zur Übernahme politischer Macht werden müsste, was sie als Kirche nicht könne.

Die ökumenische Versammlung hatte ihren Ort im Übergang, im Transferraum zwischen Kirche und Politik. Sie hat vielen, die sich dann politisch engagierten, wichtige inhaltliche Impulse vermittelt. An den Programmen der neuen Initiativen und Parteien, die sich im September bildeten, ist das ablesbar. Im Aufruf des Neuen Forum heißt es: „Alle

Bestrebungen, denen das neue Forum Ausdruck und Stimme verleihen will, liegt der Wunsch nach Gerechtigkeit, Demokratie, Frieden sowie Schutz und Bewahrung der Natur zu Grunde.“ Der „Demokratische Aufbruch nannte sich „sozial, ökologisch“. Der Aufruf von „Demokratie jetzt“ sagt: „Der Sozialismus muss nun seine eigentliche demokratische Gestalt finden, wenn er nicht geschichtlich verlorengehen soll, weil die bedrohte Menschheit auf der Suche nach überlebensfähigen Formen menschlichen Zusammenlebens Alternativen zur westlichen Konsumgesellschaft braucht, deren Wohlstand die übrige Welt bezahlen muss.“  

Überall finden wir hier die Kennworte des konziliaren Prozesses der ökumenischen Bewegung. Von ihm inspiriert fassten die Protagonisten der Herbstrevolution  nicht einen Systemwechsel von Ost nach West, sondern einen Paradigmenwechsel beider Systeme ins Auge. Er sollte von den drei vorrangigen Verpflichtungen für Gewaltfreiheit, für die Armen und für die Bewahrung des Lebens geleitet sein.

 

Wir wissen, dass die politische Entwicklung anders lief. Als die Friedensgebete im Oktober in die Massendemonstrationen übergingen, machte sich das Volk in einem großartigen Akt der Selbstbefreiung zum Subjekt des politischen Geschehens. Im Übergang von der Kirche zur Politik ging das öffentliche Handeln in die Hände über, in die es gehörte: In die Hände des Volkes und der von ihm gewählten Vertreter. Als die Mauer fiel, stand die deutsche Vereinigung als das politische Ziel auf der Tagesordnung und die Reform der DDR verschwand von der Tagesordnung. Die Vereinigung Deutschlands war nun einfach dran und damit der Systemwechsel. In der ökumenischen Versammlung hatten wir die Demokratisierung gefordert und hatten darum den Mehrheitswillen des Volkes zu akzeptieren auch wenn er von den Intentionen der Ökumenischen Versammlung abwich. Nur die vorrangige Verpflichtung zur Gewaltfreiheit blieb leitend und erwies sich als prägend für diese Revolution, die bis heute von vielen die „friedliche Revolution“ genannt wird.

 

Lassen Sie mich mit einer Frage schließen: Wie ist die Ökumenische Versammlung geschichtlich einzuordnen?

Gehört sie in das Ende der DDR und des osteuropäischen Staatssozialismus? Sie wäre dann einer unter vielen Faktoren, die den politischen Umbruch des Herbstes 89 hervorriefen. Für dessen Fortgang und Programmatik hätte sie aber keinerlei Bedeutung gehabt. Darum kann sie mit ihren eigenen theologischen und sozialethischen Entwürfen auch verlustlos dem Vergessen bzw. dem rein historischen Interesse überantwortet werden.

Oder gehört die ökumenische Versammlung über den politischen Umbruch in Deutschland und Osteuropa hinaus noch in einen anderen geschichtlichen Zusammenhang? Ich meine den geschichtlichen Zusammenhang, den wir seit einigen Jahren Globalisierung nennen.  Es ist die geschichtliche Entwicklung, die durch die weltweite Ausdehnung der wissenschaftlich-technischen Zivilisation, der Weltwirtschaft, global konkurrierende Machtzentren und grenzüberschreitende ökologische Krisen geprägt ist. Der konziliare Prozess der Ökumenischen Bewegung war ein erster umfassender Antwortversuch auf diesen geschichtlichen Prozess. Der kleine Mauerstaat DDR und seine Bevölkerung war von diesem Prozess weitgehend abgeschirmt und verhielt sich ungleichzeitig zu ihm. Die ökumenische Versammlung, die  für die Ambivalenzen und Gefährdungen der Globalisierung sensibilisieren wollte, stieß auf diese Ungleichzeitigkeit. Darüber hinaus stieß sie mit dem nun in Gang kommenden anderen geschichtlichen Prozess der  Vereinigung Deutschlands zusammen. Ich erlebte das sehr drastisch, als ich kurz vor den Märzwahlen 1990 von der Weltversammlung des konziliaren Prozesses in Seoul in die DDR zurückkam und im September vor der Synode des Kirchenbundes berichtete, welche Forderungen und Impulse von Seoul auf uns zukommen[5]. Die Zusammensetzung der neuen Volkskammer, dann Wirtschafts- und Währungsunion und politischer Vereinigungsprozess  beanspruchten alles  Interesse. Beide Geschichtsprozesse, der globale und der nationale verhielten sich ungleichzeitig zueinander.

Seit einigen Jahren zeichnet sich nun ab, dass das öffentliche Bewußtsein in den globalen Problemhorizont einwandert, für den vor zwanzig Jahren die Ökumenische Versammlung stand. Was sie damals in den globalen Zusammenhängen zum Frieden, zur wirtschaftlichen Gerechtigkeit und zur ökologischen Verantwortung gesagt hat,  erweist sich heute als relevant, unabgegolten und dringlich an der Zeit. So läge also die ökumenische  Versammlung mit dem, was sie in dieser Hinsicht wollte, eigentlich vor uns.

 

            Literatur:

Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung Dresden – Magdeburg – Dresden, eine Dokumentation, Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste Pax Christi, 1990

Heino Falcke, Der Beitrag der evangelischen Kirchen zur Herbstrevolution 1989 in der DDR in: Berliner Theologische Zeitschrift Jg. 18/2 Berlin 2001, 272 - 285

Katharina Kunter, Erfüllte Hoffnungen und zerbrochene Träume, evangelische Kirchen in Deutschland im Spannungsfeld von Demokratie und Sozialismus, Göttingen 2006

Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989, Berlin 1997

Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, Die Geschichte der Jahre 1989/90, München 2008

Katharina Seifert, durch Umkehr zur Wende, Zehn Jahre „ökumenischen Versammlung in der DDR“ – eine Bilanz, Leipzig 1999

Harald Wagner, Kirchen, Staat und politisch alternative Gruppen. Engagement zwischen Evangelium und Reglementierung, in: Horst Dähn, Die Rolle der Kirchen in der DDR, eine erste Bilanz, München 1993

Christof Ziemer, Der konziliare Prozess in den Farben der DDR, Expertise für die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland.“ masch.schriftl. beim Verfasser


[1] Das ZK der SED befürchtete schon am 2. Februar 1988, dass da „eine politisch feindliche Plattform zurechtgezimmert werden könnte“ ( Ziemer, 21 ). Eine Fülle von Anregungen sind in die Oppositionsbewegungen vom Herbst 89 eingegangen ( Neubert, 97, 790 ), die Ost-CDU griff bei ihrer programmatischen Umorientierung seit Dezember ausgiebig auf die Texte der ÖV zurück ( Seifert, 182.186 ), die neue Verfassung des Freistaates Sachsen bezog sich auf die Ökumenische Versammlung    (Seifert, 15 ).

[2] Ich war Mitglied der Kirchenleitung der Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, zeitweise auch Synodaler der Bundessynode und synodales Mitglied der Konferenz der Kirchenleitungen. Zugleich hielt ich engen Kontakt zu den Gruppen und gehörte auch zum Leitungskreis von „Konkret für den Frieden“. Im Ausschuss „Kirche und Gesellschaft“ des Kirchenbundes, dessen Vorsitzender ich von 1975 bis 1987 war, habe ich in den achtziger Jahren eine Studie zum Verhältnis von Kirche und Gruppen gefördert, deren Erscheinen von der Konferenz der Kirchenleitungen um ein Jahr hinausgezögert wurde.

[3] Dieser Konflikt fand einen deutlichen Ausdruck in dem Beschluss der Konferenz der Kirchenleitungen von 2/3. Juni 1989 zu den Wahrfälschungen im Mai und einer Demonstration dagegen, die in Berlin stattgefunden hatte. Die Gemeindeglieder werden ermahnt, ihre Anfragen sachlich mit Entschiedenheit und Umsicht vorzubringen. „Übertriebene Aktionen oder Demonstrationen sind kein Mittel der Kirche. Auch der Einsatz für Wahrheit und Wahrhaftigkeit muss in der Liebe geschehen.“ Christoph Demke u.a. (Hg. ) Zwischen Anpassung und Verweigerung, Dokumente aus der Arbeit des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR, Berlin 1995, 387f.

[4]  Zentrum für Niederlande-Studien, Jahrbuch  13 2002, Münster 2003, 91. Noch schärferen Verdacht gegen die „Exklusivität“ der ökumenischen Versammlung äußerte Lothar de Maizière, Seifert, 176

[5] 2. Tagung der VI. Synode des Bundes der evangelischen Kirchen 21. bis 25. September 1990 in Leipzig. Bericht über die Weltversammlung für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung, Seoul März 1990. Abgedruckt in Zeitschrift derArbeitsgemeinschaft katholischer Katechetik-Dozenten 27/1991, 60-68.

 

Dieser Text ist das Script eines Vortrages, der am 1. 12. 2012 in ähnlicher Form auf der Veranstaltung der GfZ „Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung: Eine Hoffnung geht weiter? Der Konziliare Prozess und die Zivilgesellschaft heute" gehalten wurde. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Mehr: www.gesellschaft-zeitgeschichte.de/veranstaltungen/fruehere-veranstaltungen/veranstaltungen-2012