FAQ zu Konspirativen Wohnungen (KW)

Geheime Trefforte der Staatssicherheit in Erfurt: Konspirative Wohnungen und Objekte

Vorbemerkungen

• Die geheimen Trefforte von hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatssicherheit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM) in Erfurt sind Gegenstand eines multidisziplinären und multikulturellen Forschungsprojektes. Erste Ergebnisse sind in einem Buch der Landesbeauftragten für die Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdienstes der Deutschen Demokratischen Republik veröffentlich worden. (Das Buch kann bestellt werden über die Adresse der BStU in Erfurt und wird kostenlos versandt.) An diesem Projekt sind beteiligt: Dr. Heinz Mestrup und Prof. Dr. Heinrich Best, Friedrich-Schiller Universität Jena sowie Jeanette van Laak, Pam Skelton, Saint Martins College of University of London, Tina Clausmeyer, Jan van Eyck, Maastricht, Verena Kyselka, Erfurt und Dr. Joachim Heinrich, München.
Der soziologisch-wissenschaftliche Teil des Projektes ist teilweise durch die Stiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin finanziert, die künstlerischen Teile durch Saint Martins und Jan van Eyck und Bundesstiftung Kultur.

• Konspirative Wohnungen sind Bestandteil der Herrschaftsgeschichte der SED-Parteidiktatur. Es entspricht dem Wesen der konspirativen Nutzung, das dem geheimen Treffort jede spektakuläre Anmutung abgeht (Heinrich Best). Diese Orte und die dort geführten Gesprächen verdeutlichen die graue Banalität der alltäglichen Herrschaftsausübung einer sozialistischen Parteidiktatur. Sie können als Erinnerungsorte dienen.

Was sind Konspirative Wohnungen (KW)?

KW sind geheime Trefforte in denen sich der hauptamtliche Mitarbeiter der Staatssicherheit mit seinem Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) getroffen hat. Eine KW kann sein:

• ein Treffzimmer in einer privaten Wohnung

• ein Büroraum innerhalb eines Betriebes oder einer Institution (allerdings nicht in Gebäuden von Parteien und politischen Massenorganisationen)

• eine komplette Wohnung oder Haus oder Objekt, die bzw. das von der Staatssicherheit gekauft oder angemietet und ausschließlich von der Staatssicherheit genutzt wurde. Diese KW wurden durch Scheinmietverhältnisse getarnt. Die Staatssicherheit trat im Zusammenhang mit den KW nicht namentlich auf.

Zusätzlich zu den KW als geheimen Trefforten sind weitere Orte der Staatssicherheit zu nennen: Deckadresse (DA) über die schriftliche Informationen ausgetauscht werden konnten und ein geheimer Postverkehr organisiert werden konnte, Konspirative Objekte (KO) als Arbeitsorte von hauptamtlichen Mitarbeitern der Staatssicherheit und Beobachtungsstützpunkte (DT). Diese Orte sind in der "Straßenkartei" F78 des MfS erfasst.

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Was geschah in der KW?

• Erteilung von Aufträgen an die IM

• Berichtsübergabe des IM (mündlich, schriftlich, teils Tonbandmitschnitte bei den mündlichen Berichten)

• Anleitung und „Qualifikation" des IM zur Spitzeltätigkeit

• Gespräch über persönliche Problem mit dem Ziel den IM besser kennen zu lernen, um ihn noch besser manipulieren zu können und ihn uneingeschränkt willfährig für alle Aufträge des MfS-Führungsoffiziers zu machen.

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Wie lief ein Treffen in der KW ab?

• Der/die Wohnungsinhaber überlies in der Regel der Staatssicherheit Haus- und Wohnungsschlüssel. Die Vorschrift des MfS sah vor, dass der Wohnungsinhaber das Treffzimmer im "sauberen und aufgeräumten" Zustand zu übergeben hatte. Er/Sie hatte Kaffee und "Rauchwaren" bereitzustellen, evtl. alkoholische Getränke. Bei weiblichen IM sollten "Süßigkeiten" zur Verfügung stehen. Der Wohnungsinhaber hatte die Wohnung vor dem Treff mit dem IM zu verlassen oder hatte sich in ein Nachbarzimmer zurückzuziehen. Der/die Wohnungsinhaber kannte den MfS-Offizier häufig nur mit Decknamen, die in seiner Wohnung getroffenen IM weder mit Namen noch von Angesicht.

• Der MfS-Offizier kontrollierte vor dem Treffen die KW auf Abhöranlagen und gab dem IM ein vereinbartes Zeichen, wenn die KW nicht zum Treffen bereit war (Als Zeichen konnte z.B. vereinbart werden: Pflaster am Briefkasten, Gardine weggezogen oder Ähnliches). Der MfS-Offizier beobachtete von der KW aus, wie sich der IM der KW näherte. Die Wege waren vorgeschrieben. Der MfS-Offizier öffnete dem IM die Wohnung.

• Der IM hatte zu kontrollieren, ob er auf dem Wege zur KW verfolgt oder beobachtet wurde (z.B. von eifersüchtigen Partnern).

• Angelangt in der KW, wurde zunächst ausführlich über persönliche Probleme des IM und ggf. über tagespolitische Ereignisse gesprochen bevor Aufgabe erteilt und Berichte entgegengenommen wurden. Die Gespräche sollten in einer "vertrauensvollen Atmosphäre" stattfinden, die stets dem Zwecke dienten, den IM zu "qualifizieren". Das heißt, dass der IM in jeglicher Beziehung dem MfS willfährig gemacht werden sollte, damit alle übertragenen Aufgaben übernommen und erfüllt werden. Ein Treffen konnte mehrere Stunden dauern.

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Warum gab es überhaupt KW in privaten Wohnungen?

• Die privaten Wohnungen stellten aus Sicht des MfS die maximale Geheimhaltung der Identität der IM und des geheim arbeitenden offiziellen Mitarbeiters des MfS sicher. Deswegen wurden "besonders schützenswerte" IM stets in privaten KW - mitunter in vom Wohnort entfernten Orten - getroffen.

• Eventuell wollte das MfS dem IM die breite Akzeptanz des MfS durch die Bevölkerung demonstrieren, in dem der Zugang des MfS zu den eigenen "vier Wänden" Dritter möglich war. Die Wohnungsinhaber hatten offensichtlich keine Vorbehalte, ihre Privatsphäre dem MfS zu öffnen und die Wohnungsschlüssel bereit zu stellen.

• Die Atmosphäre der KW in den privaten Wohnungen gaukelte dem IM eine Vertrautheit vor, die die Zerstörung der Privatsphäre des IM durch das MfS eventuell kompensieren konnte.

• Schließlich gab es KW in privaten Wohnungen, weil "gute und bewährte Genossen" (SED- Parteigenossen) problemlos und ohne Bedenken dem MfS ihre Wohnungen überließen.

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Welche Rolle spielten die Wohnungsinhaber der KW?

• Jede KW - sei diese in einer privaten Wohnung oder in einem Büro - wurde durch den Wohnungsinhaber oder durch den Betriebsdirektor bzw. Verwaltungsdirektor zur Absicherung der Geheimhaltung "abgedeckt". Die Wohnungsinhaber und Leiter von Betrieben oder Institutionen wurden als IM durch das MfS geworben und erhielten die Spezialbezeichnung "K", was für die Sicherung der "Konspirativität" steht (IMK). Um die Verbindung des IMK zu den KW bzw. KO oder DA herzustellen, wurden diese Kürzel an die IMK Abkürzung angehängt: IMK/KW, IMK/KO, IMK/DA.

• Um die geheime Identität der IM und des MfS-Offiziers zu sichern, mussten die IMK besonders "zuverlässig" und "verschwiegen" sein. Die IMK waren fast ausschließlich Mitglieder der SED mit einer langen Parteikarriere, häufig selbst seit langem IM oder hatten Familienmitglieder, die hauptamtlich für das MfS arbeiteten.

• Es handelte sich überwiegend um ältere Personen - oft schon im Rentenalter. IMK waren überwiegend Frauen im Gegensatz zu den IM anderer Kategorien, die überwiegend Männer waren. Die unterschiedlichen Geschlechtsverteilungen bei IMK und IM anderer Kategorien entsprach dem patriarchalischen Rollenverständnis des MfS von Mann und Frau. Die Frau ist danach für "Heim und Herd", wozu auch die Wohnung gehört, die "ordentlich und sauber" herzurichten war, zuständig, während der Mann als hauptamtlicher MfS-Offizier (weniger als 10% waren weibliche Mitarbeiter des MfS!) oder als IM die vermeintlich „wichtigen Dinge" regelt. Das MfS war ein Männerclub, mit eben der Ausnahme der IMK.

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Wie wurden die KW ausgewählt?

Die Auswahl geeigneter KW erfolgte durch das MfS auf der Grundlage des nachfolgenden Anforderungsprofils. Man konnte sich nicht als IMK oder auch nicht als IM beim MfS bewerben.

• Der KW-Inhaber muss als IMK-Kandidat "politisch zuverlässig und verschwiegen" sein 

• Die potenzielle KW sollte in einer Region mit viel Publikumsverkehr liegen. 

• Bevorzugt wurden Gebäude mit anonymen Wohnverhältnissen, wie z.B. Wohnkomplexe. 

• Politisch zuverlässige Mitbewohner im Haus

• KW musste fernab von Wohnungen liegen, die von geheimdienstlich bearbeiteten Personen bewohnt waren, um ein unbeabsichtigtes Zusammentreffen zu verhindern. Man fürchtete auch die unterstellte größere Sensibilität dieser Personen gegenüber dem MfS, die eine Enttarnung wahrscheinlicher machen könnte.

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Wie viele KW gab es?

• In der DDR gab es 1989 schätzungsweise KW (19% aller IM waren IMK). Das entspricht etwa 1,9 IMK/KW/1000 Einwohner.

• Die Häufigkeit der KW in der Stadt Erfurt während der 1980er Jahre ist gut erforscht. Sie beträgt 2,4 IMK/KW pro 1000 Einwohner.

• Die Häufigkeit von KW ist in anderen Städten in etwa gleich groß.

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KW in Erfurt - eine Topographie der Staatssicherheit

Es gibt in allen Bereichen der Stadt Erfurt KW, aber in manchen Regionen mehr und in anderen weniger. Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die Häufigkeit der KW in einzelnen Stadtteilen Erfurts.

Tabelle: Anteile der KW in den einzelnen Stadtteilen Erfurts pro 1000 Haushalte im Jahre 2004

Stadtteil

Haushalte 2004

Anzahl KW

Anzahl KW pro
1000 Haushalte

Berliner Platz

3466

56

3,19

Altstadt

8501

117

1,08

Johannesplatz

2782

38

2,91

Rieth

2761

31

2,35

Moskauer Platz

5153

32

0,82

Herrenberg

4075

24

0,88

Johannesvorstadt

3162

14

1,03

Roter Berg

3244

18

0,98

Sulzer Siedlung

 

3

 

Daberstedt

6789

29

0,37

Löbervorstadt

5239

23

0,46

Krämpfervorstadt

6774

24

0,31

Brühlervorstadt

5458

19

0,36

Schmira

31

1

 

Bischleben-Stedten

665

2

2,15

Ilversgehofen

5468

12

0,26

Wiesenhügel

2897

7

0,48

Andreasvorstadt

8196

15

0,15

Melchendorf

5189

7

0,15

Hohenwinden

955

1

0,57

Hochheim

1166

1

0,37

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Konspirative Wohnungen pro Strasse: die TOP 20

Die Straßen mit den meisten KW zeigt die nachfolgende Tabelle.

Tabelle: Top 20 der Erfurter Straßen mit den meisten KW bezogen auf die Anzahl der Haushalte 

Straßenname

Haushalte
1995

KW

KW pro 1000
Haushalte 1995

Prager Straße

1059

25

23,6

Juri-Gagarin-Ring

2706

62

22,9

Warschauer Straße

1154

21

18,2

Moskauer Straße

760

13

17,1

Friedrich-Engels-Straße

1541

23

15,6

Tallinner Straße*

406

6

14,8

Mainzer Straße*

483

7

14,5

Martin-Niemöller-Straße*

712

8

11,2

Maximilian-Kolbe-Straße*

500

5

10,0

Kasseler Straße*

402

4

10,0

Moskauer Platz

519

5

9,6

Liebknechtstraße

532

5

9,4

Hanoier Straße

509

4

7,9

Bebelstraße

389

3

7,7

Vilniuser Straße

1180

9

7,6

Bukarester Straße

560

4

7,1

Lowetscher Straße

1122

7

6,2

Stauffenbergallee*

497

3

6,0

Körnerstraße

1032

6

5,8

*neue Straßennamen

 

 

 

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Die Gründe für die Häufung von KW

Typische Baustruktur einzelner Straßen und Straßenabschnitte; die am häufigsten betroffenen Straßen sind Straßen mit großen Wohnkomplexen. Die lokale Häufung bei bestimmten Hausnummern ergibt sich aus der zentralen Wohnungsvergabepraxis in der DDR. Mitunter wurden ein kompletter Wohnungsblock oder ein "Aufgang" eines Blockes zur Vergabe an den Rat des Bezirkes oder aber an die SED oder einen Schlüsselbetrieb der Region, wie z.B. dem Funkwerk Erfurt vergeben. Diese haben die Wohnung teils nach "gesellschaftspolitischem Engagement", der "politischer Zuverlässigkeit" teils nach anderen Vergabekriterien an die Betriebsangehörigen vergeben. 

So gab es eine Clusterung von Wohnarealen nach der politischen Zuverlässigkeit. Zeitzeugen werden sich an das äußere Zeichen dieser Clusterung von Wohnarealen nach der "politischen Zuverlässigkeit" erinnern: Es gab insbesondere bei den Neubaublocks "Aufgänge" (Wohnungen, die übereinander lagen und häufig auch an eine Einrichtung vergeben wurden.), die von oben bis unten durchgehend an den DDR-Feiertagen wie z.B. dem 7. Oktober (Jahrestag der DDR) komplett beflaggt waren. Nur ein Aufgang weiter konnte das "Beflaggungsbild" ganz anders aussehen. Dieses "Fahnen-Raushängen" wurde als Loyalitätsbeweis eingefordert. Verweigerer wurden mit Argwohn beäugt. 

Der Juri-Gagarin-Ring war die Hauptdemonstrationsstraße. Insofern verwundert es nicht, dass diese Straße in besonderer Weise die "Unterstützung der Politik von Partei und Arbeiterklasse" (gemeint war hier die SED-Diktatur.) durch die komplette Beflaggung vorgaukeln sollte. Nach Art der Potjomkinschen Dörfer wurden deswegen am Juri-Gagarin-Ring politisch besonders zuverlässige Erfurterinnen und Erfurter angesiedelt. In dieser Straße gab es auch die meisten KW. Allerdings und vielleicht gerade deswegen nutzen die Demonstranten nur kurze Zeit später gerade diese Straße zu den großen Massendemonstrationen im Herbst 1989.

Ist die historische Häufung von KW in bestimmten Stadtbezirken heute noch sichtbar?

Ja! Die Ergebnisse der Bundestagswahl im Jahre 2005 zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen Anzahl KW pro 1000 Haushalte in bestimmten Wohnarealen und den Erststimmen für "Die Linke". Pro 1 KW pro 1000 Haushalte während der 1980er Jahre gewann "Die Linke" knapp 1% zusätzliche Erststimmen. Die CDU verlor knapp 1% Erststimmen pro 1 KW pro 1000 Haushalte. Trotz angebrachter vorsichtiger Interpretationen zeigt dieses Ergebnis die Persistenz politischer Substrukturen in der Stadt Erfurt, die ihren Ursprung in der Clusterung nach der politischen Zuverlässigkeit und den KW-Häufungen während der 1980er Jahre haben und die sich über 20 Jahre erhalten haben.

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Ist die historische Häufung von KW in bestimmten Stadtbezirken heute noch sichtbar?

Ja! Die Ergebnisse der Bundestagswahl im Jahre 2005 zeigen einen positiven Zusammenhang zwischen Anzahl KW pro 1000 Haushalte in bestimmten Wohnarealen und den Erststimmen für "Die Linke". Pro 1 KW pro 1000 Haushalte während der 1980er Jahre gewann "Die Linke" knapp 1% zusätzliche Erststimmen. Die CDU verlor knapp 1% Erststimmen pro 1 KW pro 1000 Haushalte. Trotz angebrachter vorsichtiger Interpretationen zeigt dieses Ergebnis die Persistenz politischer Substrukturen in der Stadt Erfurt, die ihren Ursprung in der Clusterung nach der politischen Zuverlässigkeit und den KW-Häufungen während der 1980er Jahre haben und die sich über 20 Jahre erhalten haben.

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Warum log der General?

Als Generalmajor Josef Schwarz als Chef der Erfurter Bezirksverwaltung des MfS am 04.12.1989 erstmals Erfurter Bürgerinnen und Bürgern Rede und Antwort stehen musste, wurde er auch nach der Anzahl von Stasi-Büros außerhalb der offiziellen Gebäude gefragt. Nach einer Bedenkzeit bezifferte er die Anzahl auf etwa 15 Konspirative Wohnungen für die Stadt Erfurt ("Das Volk", 05.12.1989). Tatsächlich waren es zu diesem Zeitpunkt schätzungsweise etwa 300. Es ist unwahrscheinlich, dass der Stasi-General diese Zahl nicht kannte. Warum log er dann? Vielleicht hielt er das Netz von Konspirativen Wohnungen für besonders schützenswert, weil dadurch die geheimdienstliche Arbeit auch ohne Nutzung der offiziellen Büros hätte fortgesetzt werden können. Für diese Spekulation spricht auch, dass es Gründe dafür geben musste, warum gerade die Kartei mit den Konspirativen Wohnungen (Straßenkartei F78) vernichtet wurde, während die Kartei mit den Klarnamen der IM erhalten blieb.

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