"Eure Rede sei JA JA oder NEIN NEIN. Was darüber ist, ist von Übel"

Seit 1987 engagierte ich mich in der kirchlichen Umweltgruppe in der OASE in Erfurt. Wir trafen uns jeweils am 1.Dienstag im Monat - immer zu einem thematischen Schwerpunkt.

Unser Treffen im März 1989 stand unter der Überschrift "Wahlrecht - Wahlpflicht". Es kamen mehr als 60 Leute, darunter auch einige Ausreisewillige. Die Vorbereitungsgruppe hatte sämtliche Informationen und gesetzlichen Grundlagen zur anstehenden Kommunalwahl zusammengestellt. Ziel unserer Versammlung war es, Menschen zu ermutigen, mit NEIN zu stimmen - immer im Wissen um mögliche Konsequenzen. Zunächst jedoch gab es eine Grundsatzdebatte darüber, ob man überhaupt an dieser Farce - so bezeichnete beispielsweise meine Mutter die Wahl - teilnehmen solle, da dies ja bedeutete, die Wahl als solche anzuerkennen.

Vereinbart wurde, dass möglichst viele in Erfurt von dem Recht Gebrauch machen sollten, an der Stimmauszählung teilzunehmen, was allerdings nur in dem Lokal zulässig war, das zum eigenen Wahlbezirk gehörte. Allein in Erfurt gab es jedoch mehr als 200 Wahllokale. Als besonders problematisch erwies sich das sogenannte Sonderwahllokal, in dem schon vor dem Wahltag gewählt werden konnte. Berichten zufolge standen dort erstmals die Menschen vor den sogenannten Wahlkabinen Schlange, die in der Regel nur nach der wortwörtlichen Umgehung diverser Hindernisse (Blumenkübel etc.) erreichbar waren. Vorteil des Sonderwahllokals war, dass die in diesen tätigen Wahlvorstände die WählerInnen oftmals nicht kannten - anders als im Wahllokal des Wohnbezirks und damit die Hürde niedriger war, NEIN zu sagen. Besonders war allerdings auch die Auszählung im Sonderwahllokal. Mit dem Verweis auf Sonderbestimmungen im Sonderwahllokal wurde die Beobachtung verunmöglicht. Im Wahllokal 47/317 A (in der damaligen POS 50), in dem mein Vater und ich nach der Feststellung unserer Personalien die Auszählung verfolgten, wurden wir nur bis zur Tür gelassen - Begründung: wir würden die Arbeit des Wahlvorstands stören. Auffällig: die meisten NEIN-Stimmen sammelten sich bei dem Zähler, der am nächsten zur Tür saß.

Immerhin: in "unserem" Wahllokal hatten 9,8% mit NEIN gestimmt, es gab 321 JA und 35 NEIN-Stimmen. Im Lokal gegenüber ein ähnliches Resultat.

Am Abend trafen wir uns, um die Ergebnisse zusammenzutragen. Immerhin war es uns gelungen, in 36 der 212 Wahllokale die Auszählungen zu verfolgen. Insgesamt zählten wir 648 NEIN-Stimmen für Erfurt - der Schnitt lag bei 10% Gegenstimmen.

Der Schlag traf mich am nächsten Morgen. Zwar waren die Angaben noch ohne Gewähr. Aber die Zeitungen vermeldeten nur 413 NEIN-Stimmen für ganz Erfurt. Es folgten Telefonate mit diversen anderen Aktiven in Jena, Berlin, Halle... Überall offensichtliche Widersprüche...

Die 413 Stimmen wurden später noch bestätigt als offizielles Ergebnis. Für mich brach damals etwas zusammen. Ich hatte nicht für möglich gehalten, dass aus dem offensichtlichen Betrug nichts folgte... Das Evangelische Ministerium erhob am 11.Mai 1989 Einspruch beim Nationalrat der Nationalen Front. Am 25. Mai gab es ein Gespräch zwischen Vertretern des Evangelischen Ministeriums und dem Beauftragten des Oberbürgermeisters. In diesem wurde der Einspruch der Erfurter Pfarrerinnen und Pfarrer mündndlich zurückgewiesen. Dies veranlasste die PfarerInnen zu einer Kanzelabkündigung, die mit Spannung in vielen Kirchen gehört wurde. In dieser hieß es: "Wir müssen darauf bestehen, dass der Widerspruch zwischen den offiziell bekannt gegebenen und den von uns offen gelegten Zahlen aufgeklärt wird. Solange dies nicht geschieht, ist unser Einspruch nicht erledigt. Wir erneuern unsere Erwartung, dass durch eine zufriedenstellende Antwort Vertrauen und Wahrhaftigkeit im gesellschaftlichen Leben unserer Stadt wiederhergestellt werden."

Für mich, Jahrgang 1973 war nach dieser "Wahl" klar: die DDR tritt die Menschenrechte und die Wahrheit - koste es was es wolle - mit Füßen, selbst wenn der Betrug nachgewiesen wird. Ich hatte jeglichen Restrespekt vor diesem - so schrieb ich es in einem verzweifelten Brief an meine Freundin "Verbrecherstaat" verloren. Und es war nachvollziehbar und tat doch so weh, dass im Sommer etliche unserer Freunde der DDR endgültig den Rücken kehre. Meine Eltern wie mich führte jedoch weiter der Leitspruch: "Bleibe im Lande und wehre Dich täglich."

Dass jedoch schon im Herbst die friedliche Revolution gelingen würde, war für mich unvorstellbar.

 

Astrid Rothe-Beinlich, 2000. Heute ist sie Landtagsabgeordnete in der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜEN in Thüringen.