Bericht und Empfehlungen 

der Historiker-Kommission

für eine  „Landesförderkonzeption für Gedenkstätten und Lernorte 

zur  Aufarbeitung der SED-Diktatur“

I. Vorbemerkung

Der vom Thüringer Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur, Christoph Matschie, einberufenen Historiker-Kommission gehören Prof. Dr. Volkhard Knigge (Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Lehrstuhl für Geschichte in Medien und Öffentlichkeit, Universität Jena, Vorsitz), Prof. Dr. Peter Maser (ehem. Direktor des Ostkirchen-Instituts der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster, Stellv. Vorsitz), Prof. Dr. Rainer Eckert (Direktor des Zeitgeschicht­lichen Forums Leipzig), Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke (Lehrstuhl für Zeitgeschichte, TU Dresden), Dr. Anna Kaminsky (Geschäftsführerin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur) sowie Prof. Dr. Hermann Wentker (Leiter der Abt. Berlin des Instituts für Zeitgeschichte München) an.

Die Kommission veranstaltete insgesamt fünf teils zweitägige Sitzungen, in deren Rahmen an zwei Tagen die Aufarbeitungseinrichtungen in Thüringen besucht und an weiteren zwei Tagen Gespräche mit Aufarbeitungsinitiativen unter Einschluss der Stiftung Ettersberg in Erfurt geführt wurden.

Die Kommission hat die Arbeitsergebnisse des Geschichtsverbundes Thüringen unter Moderation der Stiftung Ettersberg mit Dank und Anerkennung zur Kenntnis genommen und in ihre Überlegungen einbezogen.

Die Kommission wurde mit erheblichem Einsatz geschäfts- und protokollführend von der Kulturabteilung, Ref. 55, des TMBWK unterstützt.

II. Einführung

Die verschiedenen Initiativen, Gedenkstätten, Museen und Bildungseinrichtungen zur  Aufarbeitung der SED-Diktatur entstanden in einem Prozess, der entscheidend durch bürgerschaftliches Engagement und lokale Aktivitäten vorangetrieben wurde. Die auf diese Weise gebildete Thüringer Aufarbeitungslandschaft ist in ihren dezentralen Strukturen aller Anerkennung wert und sollte auch in Zukunft unter Sicherung und Ausbau fachlicher Standards bewahrt und weiterentwickelt werden.

Die derzeitige Aufarbeitungslandschaft in Thüringen ist um die Brennpunkte „Grenze und Teilung“ sowie „Haft und Repression“ organisiert. „Opposition und Widerstand“ bilden einerseits einen durchlaufenden Themenkomplex, dieser ist aber institutionell weniger profiliert als die beiden anderen. Eine integrale, prägnante Darstellung der Geschichte von SBZ und SED-Diktatur und deren Überwindung ist entsprechend der thematischen Schwerpunktsetzungen bisher nur in Ansätzen vorhanden.

Die Art der Entstehung der Thüringer Aufarbeitungslandschaft und die Zusammensetzung der sie tragenden Initiativen machen eine ständige und verlässliche Förderung von Projekten und Institutionen erforderlich. Nicht zuletzt im Sinne faktischer Verantwortungsübernahme vor Ort sollte dabei das Prinzip der Komplementärförderung durch Freistaat und Kommunen ausgebaut werden.

Allerdings sollten die Finanzierungsanteile nicht zwingend auf ein 50:50-Verhältnis festgelegt sein. Kommunen, die sich bisher nicht an der Förderung vor Ort befindlicher relevanter Einrichtungen beteiligen, sollte eine Übergangsfrist von fünf Jahren eingeräumt werden. Nach dieser Zeit sollte der erreichte Standard kritisch überprüft werden.

Im Interesse einer glaubwürdigen, differenzierten und qualitativ hochstehenden Aufarbeitung und demokratischen Bildung ist jeder Versuch abzuwehren, die Einrichtungen von politischen Weisungen abhängig zu machen. Dieser Grundsatz steht nicht im Widerspruch zu dem ständigen Bestreben, die Arbeit der Einrichtungen fortlaufend fachlich zu qualifizieren.

III. Auftrag der Kommission

Kultusminister Christoph Matschie hat am 26. Mai 2010 in einer Presseerklärung unterstrichen, dass „die Aufarbeitung der SED-Diktatur ... ein zentrales Anliegen der Landesregierung“ sei: „Basis dafür wird eine landesweite Förderkonzeption sein, die von den vielfältigen Aufarbeitungsinitiativen ausgeht und Perspektiven für eine tragfähige Zukunft entwickelt.“

Entsprechend diesem Anliegen hat die Kommission all jene Aufarbeitungsinitiativen, Gedenkstätten und Lernorte in ihre Überlegungen einbezogen, die kontinuierlich über enge lokale Grenzen hinweg wirken, über relevante historische Zeugnisse verfügen, ständige Bildungsangebote in ihr Programm einschließen und zumindest eine gewisse, der Aufgabe angemessene Infrastruktur aufweisen.

Entscheidend war weiter die Ausrichtung dieser Einrichtungen auf die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Aus diesem Grund wurde die vom Bund und dem Freistaat Thüringen finanzierte Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora von der Kommission ebenso wenig berücksichtigt wie andere Initiativen und Einrichtungen zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.

Die Kommission hatte auch zu registrieren, dass die Thüringer Einrichtungen zur Aufarbeitung der SED-Diktatur entsprechend ihrer Entstehungsgeschichte auf sehr unterschiedliche Weise finanziert und abgesichert sind. Einige erhalten eine quasiinstitutionelle

Förderung – beispielsweise das Grenzmuseum Mödlareuth oder der Gedenk- und Lernort Andreasstraße; vor allem die auf Vereinsbasis tätigen Einrichtungen sind hingegen auf Projektförderungen angewiesen.

Für die Bewertung der einzelnen Einrichtungen waren vor allem folgende Kriterien maßgeblich:

- Denkmals- bzw. Zeugniswert der historischen Orte

- historische und edukative Relevanz von Sammlungen

- Exemplarität der Geschichte des Ortes bzw. der am Ort geleisteten Arbeit

- fachliche Qualität der historischen, museologischen und pädagogischen Arbeit

- Landesrelevanz sowie Bedeutung für die Aufarbeitung der SED-Diktatur in Deutschland.

IV. Verfahren

Die Kommission hat für ihre Erörterungen umfangreiche öffentlich zugängliche Materialien zu den einzelnen Einrichtungen herangezogen, die historischen Orte der Aufarbeitung der SED-Diktatur bereist sowie sich von den dortigen Akteuren deren Arbeit erläutern lassen. Grundlage für diese Gespräche wie für die Anhörungen von Initiativen waren zudem von der Kommission erbetene, schriftlich eingereichte Selbstvorstellungen.

Bei der Formulierung ihrer Empfehlungen an die Landesregierung hat sich die Kommission folgenden Zielen verpflichtet gesehen:

- Ermöglichung einer umfassenden Auseinandersetzung mit den grundlegenden Aspekten der SED-Diktatur und ihrer Überwindung

- Bewahrung des Gedächtnisses an Mut und Zivilcourage bei der Überwindung der SED-Diktatur sowie die angemessene Würdigung deren Opfer

- Bewahrung der dezentralen Aufarbeitungslandschaft

- Etablierung und Durchsetzung hoher fachlicher Standards

- Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit

V. Beschreibung, Bewertungen und Empfehlungen zur Aufarbeitungs­landschaft im Freistaat Thüringen

Im Freistaat Thüringen hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren eine regional breit gestreute und aktive Aufarbeitungslandschaft in Auseinandersetzung mit der SED-Dik­tatur und der deutschen Teilung entwickelt. Diese Aufarbeitungslandschaft entstand weitgehend aus bürgerschaftlichem Engagement und wird bis heute an vielen Orten ehrenamtlich mitgetragen. Hinsichtlich ihrer institutionellen Verfassung wie der Ausprä­gung und Verankerung fachlicher Standards zeigt die Aufarbeitungslandschaft erkenn­bare Unterschiede. Sie ist darüber hinaus teilweise deutlich unterfinanziert. Besonders intensiv bearbeitet werden die Themenfelder „Grenze“ und „Repression“. Die Themen­felder „Opposition und Widerstand gegen die SED-Diktatur“ haben in den vergangenen Jahren zwar an Bedeutung gewonnen, werden aber insgesamt noch zu wenig gewür­digt. Eine komplexe Darstellung und Kontextualisierung der SED-Diktatur, nicht zuletzt in ihrer Verbindung von Herrschaft, Repression, Opposition, Widerstand, Gesellschaft und Alltag fehlt hingegen. In der bestehenden Aufarbeitungslandschaft gibt es jedoch Ansatzpunkte, um diese Defizite zu überwinden.

Alle vom Freistaat Thüringen bisher geförderten Orte haben Denkmals- bzw. Zeugnis­wert. Diese sind jedoch von unterschiedlicher thematischer Breite und Relevanz. Die Themenfelder „Grenze und Teilung“, „Haft und Repression“ sowie „Opposition und Widerstand“ lassen sich zudem mehreren Orten zuordnen, auch wenn sich entspre­chend der ortsspezifischen historischen Signifikanz Akzentuierungen und Binnendiffe­renzierungen ausmachen lassen.

In die Erarbeitung dieser Empfehlungen wurden entsprechend der eingangs dargestell­ten Voraussetzungen folgende Gedenkstätten, Museen, Archive, Initiativen und Vereine einbezogen:

- Grenze und Teilung: Teistungen, Schifflersgrund, Mödlareuth, Point Alpha

- Haft und Repression: Amthordurchgang Gera, Andreasstraße Erfurt[1] , Freiheit e.V.[2]

- Opposition und Widerstand: Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Jena, Geschichts­werkstatt Jena, Gesellschaft für Zeitgeschichte Erfurt.

 

Generell empfiehlt die Kommission die Einrichtung einer

„Fachkommission zur Förde­rung und Fortentwicklung der Aufarbeitungs- und Gedenkstättenlandschaft zur SED-Diktatur“ im Freistaat Thüringen.

Die Fachkommission sollte über eine weitestgehende Unabhängigkeit von jenen Einrichtungen verfügen, deren Förderanträge sie bewertet. Ihre Mitglieder müs­sen fachlich hoch ausgewiesen sein. Die von ihnen repräsentierten Einrichtungen dürfen kein Eigeninteresse an den von der Kommission zu bewertenden Förd­rungen besitzen.

Über die Bewertung von Projektförderanträgen hinaus soll die Fachkommission die Entwicklung der Aufarbeitungslandschaft und der Förderstruktur sowie die Umsetzung des neuen Landesförderkonzeptes auswerten. Die erste Auswertung soll drei Jahre nach Inkrafttreten des neuen Förderkonzepts vorgenommen werden. Die Fachkommis­sion gibt ihre Empfehlungen dem Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur ausschließlich zur Verwendung von Landesfördermitteln ab. Die an das Ministerium gerichteten Förderanträge werden an die Fachkommission weitergeleitet, die diese Anträge bewertet und Förderempfehlungen erarbeitet. Auf der Grundlage dieser Empfehlungen reicht das Land die Fördermittel aus und prüft deren Verwendung. Die Fachkommission sollte einmal pro Jahr sowie nach Notwendigkeit tagen.

 

1. Grenze und Teilung

Deutsch-Deutsches Museum Mödlareuth

Zeugniswert:
Am historischen Ort wird die deutsche Teilung visuell besonders plastisch an der Tei­lung eines Dorfes erfahrbar („Little Berlin“). Zudem steht Mödlareuth für eine gemeinsa­me Initiative von Ost und West zur Öffnung der Grenze am 9. Dezember 1989 und zur Beseitigung der Grenzanlagen am 17. Juni 1990.

Darstellung vor Ort:
Im Dorf wurden Teile der ehemaligen Grenzanlagen in der Ortsmitte erhalten. Eine Ausstellung wird gezeigt.

Fazit:
Die historischen Überreste des ehemaligen Grenzverlaufs werden derzeit durch will­kür­lich hinzugefügte und von ihren ursprünglichen Standorten versetzte Anlagen in ihrer historischen Wahrnehmbarkeit stark beeinträchtigt. Die Ausstellung stellt die Geschichte derzeit nur begrenzt dar.

Empfehlung:
Bei der Neukonzeption der Ausstellung und Außenanlagen sind die in den Außenanla­gen nicht den historischen Gegebenheiten entsprechenden Anlagen und Bauten zu entfernen. Die jetzige rudimentäre Ausstellung ist im Einvernehmen mit den zuständi­gen Gremien zu erweitern und auszubauen, wobei die Geschichte des Ortes im Mittel­punkt stehen muss.

Die institutionelle Grundsicherung in Verbindung mit dem Bund sollte von Bayern und Thüringen weiterhin gewährleistet werden.

 

Grenzlandmuseum Eichsfeld e.V. in Teistungen

Zeugniswert:
Teistungen steht für die Teilung der konfessionell besonders geprägten Region des Eichsfeldes. Der dortige Grenzübergang ermöglichte seit 1973 den kleinen Grenzverkehr für rund 5,5 Millionen Menschen. Bemerkenswert ist der Ort schließlich auch durch die Massenflucht von Böseckendorf am 2. Oktober 1961 sowie durch die sogenannte „Kofferdemonstration“ Anfang 1990. Im Jahre 1989 war dieser Grenzübergang der erste, der an der innerdeutschen Grenze geöffnet wurde. Das Grenzlandmuseum verfügt über eine bedeutende Anzahl von nicht überformten Sachzeugnissen am ursprünglichen Standort, u. a. über eine Personenkontrollschleuse. Erhalten blieb auch eine komplette Grenzanlage von 4,5 Kilometern Länge.

Darstellung vor Ort:
Die vorhandenen Sachzeugnisse werden über die neu eingerichtete Ausstellung sinnvoll erschlossen und historisch kontextualisiert. Die Verbindung von historischen mit ökologischen Fragen (Heinz-Sielmann-Stiftung/Grünes Band) ist besonders geeignet, jugendliche Besucher anzuziehen und für historische Themen zu interessieren. Zudem bietet das Grenzlandmuseum ein von der Geschichte des Ortes ausgehendes überzeugendes und umfangreiches Bildungsprogramm an.

Fazit:
Der erreichte hohe fachliche Standart ist dauerhaft zu sichern.

Empfehlung:
Die Kommission empfiehlt die institutionelle Grundsicherung des Grenzlandmuseums Eichsfeld e.V. über den Freistaat Thüringen und das Land Niedersachsen.

Die den historischen Ort stark überformende Fußgängerbrücke sollte angemessen reduziert werden.

 

Grenzmuseum Schifflersgrund

Zeugniswert:
Das Grenzmuseum Schifflersgrund verfügt über einen sehr langen nahezu authentisch erhaltenen Grenzabschnitt, der sich auf Grund topographischer Besonderheiten visuell besonders instruktiv von einer Aussichtsplattform erschließt. Darüber hinaus lässt sich sowohl in den Spuren vor Ort wie auf Grundlage der vorhandenen Überlieferung die Fluchtgeschichte von H.-J. Große 1982 exemplarisch anhand vorhandener Sachzeug­nis­sen dokumentieren und vermitteln.

Darstellung vor Ort:
Die spezifische historische Bedeutung wird durch eine nicht mit dem Ort verbundene Ansammlung von Objekten (insbesondere militärischem Gerät und Fahrzeugen) weit­gehend überlagert und verstellt. In den Ausstellungen werden notwendige geschichts­wis­senschaftliche, gestalterische und ausstellungsdidaktische Standards nicht erreicht.

Fazit:
Das in den vergangenen Jahren entstandene Grenzmuseum überformt die historischen Spuren nahezu vollständig. Ausstellungen und pädagogische Arbeit sind fachlich nicht hinreichend fundiert.

Empfehlung:
Die historische Lesbarkeit des Geländes muss durch eine dem Ort angemessene, fach­lich fundierte Erschließung und Präsentation wieder hergestellt werden. Hierfür sind die auf dem Gelände aufgestellten, nicht zu diesem Ort gehörenden Objekte und Installatio­nen zu entfernen. Der Schwerpunkt sollte auf der o. g. exemplarisch aufbereiteten Fluchtgeschichte und der Folgen liegen.

Die weitere Förderung durch den Freistaat Thüringen ist abhängig zu machen von der fachlichen Anbindung an das Grenzmuseum Teistungen in geschichtswissenschaft­licher, museologischer und pädagogischer Hinsicht. Dafür sollte eine zusätzliche Stelle am Grenzmuseum Teistungen geschaffen werden.

 

Gedenkstätte Point Alpha

Zeugniswert:
Als einer von mehreren vorgeschobenen Beobachtungsstützpunkten der NATO bzw. der US-Streitkräfte steht Point Alpha in erster Linie für die Geschichte des Kalten Krie­ges aus westlicher Perspektive. Diese Situation wird durch die erhaltenen Beobach­tungstürme auf beiden Seiten der Grenze signifikant topographisch markiert. Darüber hinaus bezeugt Point Alpha auch die deutsche Teilungsgeschichte und das DDR-Grenzregime im „Haus auf der Grenze“.

Darstellung vor Ort:
Die historische Erschließung des Ortes fokussiert in überzeichneter Form auf dessen Stellenwert im Kalten Krieg. Die Darstellung im „Haus auf der Grenze“ bearbeitet ihr Thema ohne konkreten Ortsbezug und sinnvolle Spezifik.

Fazit:
Point Alpha als Zeugnis des Kalten Krieges in westlicher Perspektive fällt nicht unter die Kriterien dieser Förderkonzeption. Die Situation an der Grenze ist bereits an anderen Orten prägnant erfahrbar. Die Geschichte von Teilung und Grenze wird dort fachlich besser präsentiert.

Im Gegensatz zu allen anderen für eine Förderung aus Landesmitteln in Frage kom­men­den Gedenkstätten und Lernorten sind Point Alpha und das „Haus auf der Grenze“ bereits durch eine Stiftung und eigene Mittel gesichert.

Empfehlung:
Es ist Sorge dafür zu tragen, dass das Gesamtvorhaben Point Alpha nicht zu Lasten der Absicherung und Entwicklung der vom Freistaat Thüringen geförderten Aufarbei­tungs- und Erinnerungslandschaft geht.

Die Kommission empfiehlt deshalb, die von Hessen und Thüringen finanzierte Stiftung Point Alpha nicht aus Mitteln der Gedenkstättenförderung des Freistaats Thüringen zu fördern.

 

2. Erinnerungsorte im Freistaat Thüringen in ehemaligen MfS-Haftanstalten

Im heutigen Freistaat Thüringen befinden sich in den ehemaligen DDR-Bezirkshaupt­städten Suhl, Erfurt und Gera drei ehemalige Haftanstalten der Staatssicherheit. Diese Haftorte stehen in besonderer Weise nicht nur für Verfolgung und Repression in der SED-Diktatur, sondern auch für Opposition und Widerstand.

 

Gedenk- und Begegnungsstätte im Torhaus Gera (Amthordurchgang)

Zeugniswert:
Von der ehemaligen MfS-Haftanstalt ist heute nur noch das Torhaus erhalten. Da der Zellentrakt abgerissen wurde, ist der Zeugniswert des heute noch erhaltenen Gebäude­teils eingeschränkt.

Darstellung vor Ort:
Im Torhaus befinden sich derzeit heterogene Ausstellungen, künstlerische Inszenie­rungen und Installationen, die nicht in jedem Fall der Geschichte des Ortes gewidmet sind. Hervorzuheben ist die rege Bildungsarbeit des Vereins.

Fazit:
Der Gedenkstätte kommt vor allem lokale Bedeutung für den Raum Gera zu. Mit die­sem historischen Ort verbindet sich die Geschichte von Matthias Domaschk, der unter bis heute ungeklärten Umständen hier in der MfS-Untersuchungshaft ums Leben ge­kom­men ist. Die Ausstellung ist fachwissenschaftlich und gestalterisch überarbeitungs­bedürftig.

Empfehlung:
Die historische Erschließung der Sachzeugnisse und die musealen Darstellungen sollen sich auf die Geschichte des Ortes einschließlich der Nutzung im Nationalsozialismus konzentrieren. Pseudoauthentische Inszenierungen sollen im Kontext einer Neukonzep­tion vermieden werden.

Die gegenwärtig geleistete Arbeit ist – einschließlich der Bildungsarbeit – zu sichern. Die Stadt Gera ist in den finanziellen Unterhalt des Gedenk- und Lernortes einzu­beziehen. Die zukünftige Landesförderung muss sich mit der Erwartung verbinden, dass die Stadt in dieser Hinsicht ihrer Verantwortung nachkommt.

 

Gedenk- und Lernort Andreasstraße Erfurt

Zeugniswert:
Als Untersuchungshaftanstalt mit einem Zellentrakt des MfS steht die Andreasstraße ebenso für politische Repression und Widerstand wie für die Überwindung der SED-Diktatur in der ehemaligen Bezirkshauptstadt und heutigen Landeshauptstadt Erfurt. Am 4. Dezember 1989 wurde der Komplex Andreasstraße durch Bürgerrechtler im Zuge der Friedlichen Revolution als erstes MfS-Objekt in der DDR besetzt.

Darstellung vor Ort:

Die vom Thüringer Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur berufene Arbeitsgruppe Konzeption Andreasstraße wird ein Ausstellungskonzept für die Dauerausstellung vorlegen.

Fazit

Die Andreasstraße als Denkmal zeichnet sich durch ihre historische Mehrdimensionalität und ihre zentrale Lage in der thüringischen Landeshauptstadt aus. Zwar wurde die Andreasstraße seit dem 19. Jahrhundert als Haftanstalt genutzt, entscheidend ist jedoch die Zeit nach 1945.

Empfehlung:
Auf Grund ihrer komplexen Geschichte eignet sich die Andreasstraße in besondere Weise dafür, in der Landeshauptstadt die Geschichte der SED-Diktatur und ihrer Über­windung in Thüringen unter besonderer Berücksichtigung der Andreasstraße als MfS-Haftanstalt darzustellen. Dies bedeutet auch, dem Gedenken an die Opfer, der Über­windung der SED-Diktatur und historisch-politischer Bildung Raum zu geben. Geeignet dafür wäre die Verknüpfung des Gedenk- und Lernortes mit einer Daueraus­stellung zur Geschichte der SED-Diktatur und ihrer Überwindung in Thüringen in Verbindung mit einem „Erfahrungsgeschichtlichem Forum“, das der strukturierten Vermittlung unmittel­barer Erfahrungen insbesondere politischer Häftlinge bzw. von Opponenten gegen die SED-Diktatur dient.

Die mehrdimensionale Ausrichtung des Gedenk- und Lernortes Andreasstraße wird Aus­strahlung und Wirkung auch über das Land Thüringen hinaus entfalten. Um den Gedenk- und Lernort Andreasstraße auf hohem fachlichen Niveau dauerhaft abzusi­chern, empfiehlt die Kommission die institutionelle Förderung und eine institutionelle Verbindung mit der Stiftung Ettersberg (siehe Anlage!). Die Ausstattung des Gedenk- und Lernortes sollte so angelegt sein, dass die Andreasstraße auch andere Gedenkorte fachlich unterstützen kann.

 

3. Aufarbeitungsinitiativen

Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Jena (ThürAZ)

Zeugniswert:
Das Archiv, das aus Opposition und Friedlicher Revolution entstanden ist, steht zu­gleich für die frühen Aufarbeitungsbemühungen in Thüringen. Es ist das einzige Archiv in Thüringen, das die vielfältigen Überlieferungen zu Opposition, Widerstand und alter­nativen Lebensformen sowie Milieus in Thüringen sammelt, erschließt und für For­schung und Bildungsarbeit zur Verfügung stellt. Die Sammlung ist für eine umfassende Geschichtsschreibung über die DDR relevant und für die Darstellung der Vernetzung der Opposition in der DDR aufschlussreich. Diese o. g. Aspekte können von klassi­schen staatlichen Archiven nicht hinreichend abgedeckt werden.

Darstellung vor Ort:
Das Archiv verfügt über Magazinräume sowie einen Raum, in dem Bildungsveranstal­tun­gen stattfinden.

Fazit:

Neben der Bedeutung der archivalischen Sammlungen ist die Verbindung von Archiv- und Bildungsarbeit hervorzuheben.

Empfehlung:  

Stadt ist dauerhaft zu gewährleisten und fortzuführen. Sie sollte vom ThürAZ auch dafür genutzt werden, seine Servicefunktion für die Thüringer Aufarbeitungslandschaft weiter zu entwickeln.

 

Geschichtswerkstatt Jena

Die Geschichtswerkstatt gibt die vierteljährlich erscheinende Aufarbeitungszeitschrift Gerbergasse 18“ heraus.

Fazit:

Diese Zeitschrift ist die einzige in Thüringen erscheinende Zeitschrift zur Geschichte der SED-Diktatur und ihrer Überwindung. Trotz einer relativ hohen Auflagenzahl erreicht die Zeitschrift derzeit allerdings kein breites Publikum.

 

Empfehlung:

Die Zeitschrift „Gerbergasse 18“ sollte hinsichtlich ihrer Mitarbeiter, Autoren und Themen professionalisiert und pluralisiert werden. Anzustreben wäre ihre Entwicklung zur Fachzeitschrift des Thüringer Geschichtsverbundes.

 

Gesellschaft für Zeitgeschichte Erfurt

Der Verein arbeitet auf ehrenamtlicher Basis und tritt mit Publikationen und Veranstal­tungen an die Öffentlichkeit. Der Verein erinnert insbesondere an Opposition und Widerstand und die Besetzung der Andreasstraße 1989 und vermittelt Zeitzeugen.

Empfehlung:

Die Arbeit des Vereins ist weiterhin auf Projektbasis zu unterstützen. Das im Verein vorhandene Zeitzeugenpotenzial und die entsprechenden erfahrungsgeschichtlichen Kompetenzen sollten in ein an der Andreasstraße anzubindendes „Erfahrungsge­schicht­liches Forum“ eingebracht werden.

 

Freiheit e.V.

Der Verein, in dem vor allem ehemalige politische Häftlinge organisiert sind, hat sich die Aufgabe gestellt, durch Zeitzeugengespräche und Führungen in Verbindung mit der TLStU in der ehemaligen Haftanstalt Andreasstraße die Erinnerung an Repression und Hafterfahrungen wach zu halten und vermittelt entsprechende Zeitzeugen.

Bedauerlicherweise stand der Verein Freiheit e.V. für ein Gespräch nicht zur Verfügung.

Empfehlung:

Das im Verein vorhandene Zeitzeugenpotenzial und die entsprechenden erfahrungs­geschichtlichen Kompetenzen sollten in dem „Erfahrungsgeschichtlichen Forum“ im Gedenk- und Lernort Andreasstraße eingebracht werden.

 

 

Die Erarbeitung der Empfehlungen und der Anlage sind von der Kommission mit der Endredaktion am 4. Dezember 2010 abgeschlossen worden.

 

Anlage: Stiftung Ettersberg

1. Die institutionelle Verbindung der Stiftung Ettersberg und des Gedenk- und Lernorts Andreasstraße empfiehlt sich insbesondere aus folgenden Gründen:

a) die Stiftung Ettersberg verfügt mit ihrer nationalen und internationalen Vernetzung über ausgewiesene Kompetenzen im Hinblick auf die vergleichende Erforschung europäischer Diktaturen und ihrer Überwindung

b) sie gewährleistet die Verschränkung von zeithistorischer Forschung und historisch-politischer Bildung

c) sie besitzt langjährige Erfahrung in der Einwerbung von Drittmitteln

d) sie verfügt über ausgewiesene Verwaltungskompetenz.

Aus den genannten Gründen sind aus der institutionellen Verbindung der Stiftung Ettersberg und des Gedenk- und Lernorts Andreasstraße insbesondere drei Effekte zu erwarten:

a) fachliche Fundierung der Arbeit auf hohem Niveau

b) ein zügiger Arbeitsbeginn

c) Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit der Aufarbeitung.

2. Aus einer institutionellen Verbindung der Stiftung Ettersberg mit dem Gedenk- und Lernort Andreasstraße ergeben sich jedoch substanzielle Konsequenzen für die zukünf­tige Struktur der Stiftung Ettersberg:

Neben der Fortführung ihrer bisherigen Arbeit wird die Stiftung Ettersberg eine Auswei­tung ihres Stiftungsauftrages, Satzungsanpassungen und eine Namensänderung vor­neh­men müssen. Im Zuge der notwendigen Strukturanpassungen ist auch eine Neufor­mierung der Gremien erforderlich.

Einzurichten wären ein Stiftungsrat als Leitungsorgan sowie ein den Stiftungsrat bera­ten­der wissenschaftlicher Beirat, in dem auch geschichtsdidaktische, museumspädago­gische und museologische Kompetenzen angemessen vertreten sein müssen. Erforder­lich ist zudem ein Beirat, in dem die Erfahrungen der thüringischen Bürgerbewegung und der Opfer der SED-Diktatur zur Geltung kommen und der den wissenschaftlichen Beirat entsprechend berät. Die durch die institutionelle Verbindung von Stiftung Ettersberg und dem Gedenk- und Lernort Andreasstraße geschaffene Einrichtung, wäre durch ein bisher einzigartiges, besonders effizientes Drei-Säulen-Modell der Aufarbei­tung gekennzeichnet: nämlich der Verbindung von vergleichender Erforschung der euro­päischen Diktaturen und ihrer Überwindung mit einem Gedenk- und Lernort sowie einem erfahrungsgeschichtlichen Forum an einem authentischen Ort der SED-Diktatur.

3. Voraussetzung für die Realisierung einer fachlich fundierten Gedenkstättenarbeit ist die einschlägige wissenschaftliche Qualifikation der Mitarbeiter im zeithistorischen, gedenkstättenpädagogischen und museologischen Bereich.

Der Leiter der Gedenkstätte muss über eine exzeptionelle fachliche Qualifikation verfügen, die einen Hochschulabschluss im Fach Geschichte oder verwandten Fachgebieten, eine einschlägige Promotion sowie Leitungserfahrung einschließt.