Einspruch!

Glaube und Heimat 11. März 2010
von Gemeinsame Redaktion Abgelegt unter Im Blickpunkt

Rund 39 Millionen Karteikarten und 180 Kilometer Aktenbestände gehören zu den bisher aufgefundenen Hinterlassenschaften des DDR-Geheimdienstes. Doch entsprechen dessen Berichte und Einschätzungen in jedem Fall der Wahrheit? Foto: epd-bild/version/Ralf Maro

Rund 39 Millionen Karteikarten und 180 Kilometer Aktenbestände gehören zu den bisher aufgefundenen Hinterlassenschaften des DDR-Geheimdienstes. Doch entsprechen dessen Berichte und Einschätzungen in jedem Fall der Wahrheit? Foto: epd-bild/version/Ralf Maro

Die Akten der Staatssicherheit gelten vielen als Kronzeugen für eine erfolgreiche Unterwanderung und Steuerung der DDR-Kirchen. Doch wie zuverlässig sind die Hinterlassenschaften?

Dass die Hinterlassenschaft des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) trotz ihres erhaltenen Aktenbestandes von 178 laufenden Kilometern nicht ausreicht, um der DDR-Wirklichkeit auf die Spur zu kommen, wird niemand infrage stellen. Was der Geheimdienst bienenfleißig, interessengeleitet und menschenverachtend an Informationen gesammelt hat, kann nicht für bare Münze genommen werden, sondern muss sich an anderen Quellen messen lassen. Selbst als zeitgeschichtliche Primärquelle können sie nicht dienen, obschon die Enthüllungsliteratur der 90er Jahre dies weitgehend praktiziert hat. »Wer dem problematischen Charakter der Stasiakten nicht Rechnung trägt, setzt ihr Zerstörungswerk fort«, ist sich der Thüringer Oberkirchenrat i. R. Ludwig Große sicher. »Auch die verheerende Wirkung missbrauchter oder fahrlässig gehandhabter Akten gehören zur Wirkungsgeschichte des MfS.«

1999 wurde Ludwig Große von seiner Landeskirche und der Jenaer Theologischen Fakultät beauftragt, Einflussversuche des MfS auf die Evangelisch-Lutherische Kirche in Thüringen und über sie auf die Organe des Bundes Evangelischer Kirchen in der DDR (BEK) exemplarisch zu prüfen und den Umgang mit Stasiakten aus hermeneutischer Sicht zu erörtern.

Der 1933 in Zeutsch geborene Tannrodaer Gemeindepfarrer, Saalfelder Superintendent, Leiter der Lutherischen Bekenntnisgemeinschaft und Eisenacher Oberkirchenrat für Ausbildung und Erziehung weiß, wovon er redet, war er doch selbst 28 Jahre lang aktenkundig im Visier der Staatssicherheit, wurde in drei operativen Vorgängen mit dem Ziel der Zersetzung bearbeitet und war wegen seines mutigen Auftretens der Lieblingsfeind staatlicher Stellen. Als Synodaler seit 1964 in Thüringen und seit 1974 auch im DDR-Kirchenbund, Mitglied in der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen, in der Beratergruppe zwischen ostdeutschem BEK und westdeutscher EKD und schließlich im Thüringer Landeskirchenrat, bekam der Theologe auf allen ­Ebenen Informationen aus erster Hand. Offizielle kirchliche Verlautbarungen, aber auch sorgsam archivierte interne Gremienprotokolle und persönliche Aufzeichnungen ermöglichten es, der vielschichtigen Wahrheit im Vergleich von Stasiakten, kirchlicher Überlieferung und Zeitzeugeninterviews näherzukommen. Wobei letzteren besondere Bedeutung zukommt, wenn es um die Geschichte ­einer Diktatur geht, in der Widerständiges aus naheliegendem Grund oft nur mündlich oder verschlüsselt weiterge­geben wurde.

Nun liegt das Ergebnis der Recherchen vor in einem von der Evangelischen Verlagsanstalt herausgegebenem dicken Band mit dem Titel »Einspruch!« und ­einem Vorwort des letzten Thüringer Landesbischof Christoph Kähler. Gleich die ersten Buchseiten zeigen am Beispiel der Vorgänge um den Aufnäher »Schwerter zu Pflugscharen«, wie unterschiedlich bis gegensätzlich die verschiedenen Quellen reden. Während staatliche Stellen und das MfS von der gelungenen Spaltung der Landeskirchen einerseits und der Träger des Symbols und den Kirchen andererseits zu berichten wissen, dokumentieren kirchliche Informationen, u. a. im Blick auf das am 7. April 1982 stattgefundene Gespräch der Konferenz der Kirchenleitungen mit Staatssekretär Klaus Gysi in dieser Sache, eine geschlossene kirchliche Front. »Wer die staatlichen Texte mit den kirchlichen vergleicht, muss sich fragen: Ist hier von der gleichen Veranstaltung die Rede?«

Wenn ein Zeitzeuge die Akten ehemaliger Gegner liest und sie bei einer Fülle von Fallbeispielen mit eigenen Quellen und den Erfahrungen Dritter zusammenbringt, wird auch nicht die Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit herauskommen. »Ein bewusst oder unbewusst wirksames Vorverständnis liegt jeder Untersuchung zugrunde, auch dieser«, gibt der Autor zu. Wer ihn kennt, wird ohnehin nicht eine leidenschaftslos nüchterne Bilanz erwarten, sondern eine Streitschrift.

Sie bietet auftragsgemäß und notwendigerweise keine lückenlose Chronik der MfS-Einflussversuche auf die Thüringer Kirche, sondern nur exemplarisch untersuchte Vorgänge und Texte. Wobei sich manches, was in der Superintendentur Saalfeld vor sich ging, nicht unbedingt auf alle anderen Regionen oder Landeskirchen übertragen lässt. Immer wieder wichtig ist dem Autor der Hinweis auf die von den Genossen völlig unterschätzte politische Wirkung biblischer Texte als Handlungsgrundlage einer Kirche, die Ludwig Große immer als Versammlung aller Gläubigen und nicht als Institution begreift.

Dass die Einschätzung der Kirche durch das MfS nach energischem »Einspruch« verlangt und deren geheime Akten der Auslegung bedürfen und nicht als Kronzeugen verwendet werden können, wird durchgängig deutlich. Und auch, dass jeder Vorgang für sich bewertet werden muss im Spiegel unterschiedlicher Aussagen. Wenn dafür jetzt mehr kirchliche Quellen und Zeitzeugenberichte zur Verfügung stehen als vorher, ist das ein Verdienst dieses Buches und seines kenntnisreichen Verfassers. Eine Unmenge von Anmerkungen, Dokumenten, umfangreiche Literatur-, Personen- und Sachregister fördern Verständnis und Weiterarbeit.

Christine Lässig

Buchcover-EinspruchGroße, Ludwig: Einspruch!
Das Verhältnis von Kirche und Staatssicherheit im Spiegel gegensätzlicher Überlieferungen,
Evangelische Verlagsanstalt GmbH, Leipzig,
776 S., ISBN 978-3-374-02713-2, 38,00 Euro

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