
Trauer am Maidan: Die Leipziger legen Blumen zum Gedenken an die Opfer der blutigen Proteste nieder.

Spuren der Zerstörung: Der Dolmetscher Oleg Blaschtschuk (2.v.r.) erklärt Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung die aktuelle Entwicklung am Maidan in Kiew. Fotos (2): Björn Meine
Roman Gurik war 19 Jahre alt. Da wurde er durch einen Schuss in die Schläfe getötet. Schicksale wie dieses findet man zu Dutzenden auf dem Maidan. Für die Toten haben die Kiewer den riesigen Platz zu einer Gedenkstätte gemacht. Überall hängen Bilder wie das vom jungen Roman. Überall liegen Blumen, kleine Kuscheltiere. Überall leuchten Kerzen. Die Delegation aus Leipzig ist hier. Versteinerte Mienen. OBM Burkhard Jung (SPD) lässt sich vom Kiewer Vize-Stadtdirektor Bogdan Dubas erklären, was passiert ist, als die Gewalt Mitte Februar eskalierte. Auf dem Maidan sieht man kaum jemanden lächeln. Eine schwere Trauer liegt über dem Platz, auch Wochen nach den vielen Schüssen, die mindestens 100 Menschen töteten. Es gibt immer noch viele Zeltlager und eine Feldküche, junge Ukrainer campieren zwischen den Barrikaden aus Reifen und Steinen.
Der OBM ist tief betroffen. Das gilt genauso für Bürgerrechtlerin Gesine Oltmanns und Uwe Schwabe - ebenfalls während der Friedlichen Revolution in Leipzig aktiv, heute Sammlungs-Mitarbeiter im Zeitgeschichtlichen Forum. Ralf Haska ist bei ihnen, er stammt aus Gransee und ist seit 2009 Pfarrer der Deutschen-Evangelischen Kirchengemeinde St. Katharina in Kiew. "Ich habe nur gehört ,Scharfschützen, Scharfschützen - Vorsicht Scharfschützen'", erzählt Haska. Am 20. Februar haben wahrscheinlich Leute der Berkut-Einheit des ehemaligen Machthabers Viktor Janukowitsch dutzende Demonstranten getötet. Haska bekam ein Gummigeschoss ab, wurde an der Hand verletzt. Angst um seine Kinder (9, 13 und 14 Jahre alt) habe er aber nur während dieser schlimmen Tage gehabt. "Als wir am eigenen Leib erlebten, dass es gefährlich wird, haben wir sie im Haus gelassen."
Für OBM Jung ist der Besuch in der Partnerstadt eine Selbstverständlichkeit - gerade zu dieser Zeit. "Wir wollen die Hand ausstrecken. Wir möchten bei den Menschen sein, die so viele Tote zu beklagen haben. Es geht um menschliche Kontakte mit unserer Partnerstadt, nicht um Außenpolitik." Trotzdem: Jung hat vor der Reise beim russischen Generalkonsul in Leipzig angerufen. Wjatscheslaw Logutow habe überhaupt nichts gegen die Freundschaftspflege auf der kommunalen Ebene - um genau die geht es dem OBM. Das Bundesaußenministerium habe die Reise befürwortet. Und der Schweizer Botschafter in Berlin, Tim Guldimann, habe ihn während der Buchmesse ebenfalls bestärkt, erklärt Jung. Die Kiewer selbst hätten sich bei der Anfrage riesig gefreut.
Gesine Oltmanns und Uwe Schwabe hatten sich stark gemacht für diese Reise. Weil sie große Parallelen sehen zur Friedlichen Revolution 1989 in Leipzig. Gesine Oltmanns ist beeindruckt vom traurigen, aber wieder friedlichen Gefühl in der Stadt. "Das hier zeigt mir als Leipzigerin, was uns alles erspart geblieben ist", erzählt die 49-Jährige. In ihr sind auf dem Maidan längst vergessen geglaubte Emotionen wieder ausgebrochen. Das Gefühl von früher eben.
"Bei uns hätte es auch so ausgehen können", sagt Uwe Schwabe mit Blick auf die Gewalt. "Für uns war es damals auch wichtig, dass der Westen Anteil nimmt an dem, was wir tun. So etwas stärkt einen in den Bemühungen, etwas zu verändern." Deshalb wolle man direkt vor Ort Präsenz zeigen, denen moralische Unterstützung geben, die gegen Korruption und für Freiheit kämpfen. "Ich bin viel in Osteuropa unterwegs, unterhalte mich dort mit jungen Leuten", erzählt der 52-Jährige. "Denen geht es nicht vorrangig darum, an die Fleischtöpfe Europas zu kommen; die haben eine ganz große Sehnsucht nach Rechtsstaatlichkeit." Schwabe ist sich sicher: "Europa funktioniert nur mit der Ukraine." Die Kiewer spüren diese Verbundenheit. "Das Wichtigste an dem Besuch ist der freundliche Willen, uns zu unterstützen", freut sich der Kiewer Verwaltungschef Wolodymyr Bondarenko.
Die Kiewer Partnerschaft ist die älteste der Leipziger, sie besteht seit 1961, bis 2011 beschreibt OBM Jung das Verhältnis als friedlich ruhend. Dann kam das große Fest zum 50. Bestehen, mit Begegnungen bei einer Bürgerreise, einer Städtepartnerschaftskonferenz, vielen gemeinsamen Erlebnissen, erinnert sich Gabriele Goldfuß, Leiterin des Referats Internationale Zusammenarbeit. Die Ukraine präsentierte sich im Jubiläumsjahr auf der Haus-Garten-Freizeit.
Neben der Verwaltungsebene ist noch viel mehr gewachsen. Renate Voigt (61) gehört ebenfalls zur Leipziger Delegation. Mit dem Verein Ukraine-Kontakt kümmert sie sich um die Organisation von Austausch und Begegnung. Mehr als 1000 Kinder wurden seit 1991 zum Erholungsurlaub aus der atomverseuchten Umgebung rund um Tschernobyl geholt. Noch immer läuft diese Aktion, mittlerweile konzentriert sich der Verein aber auf den Austausch zwischen Schülern. Das Musik- und Sportgymnasium der Rahn-Schulen und die Deutsche Schule in Kiew trafen sich im Dezember in Leipzig. Das Zwenkauer Regenbogen-Gymnasium empfängt im Mai die 149. Kiewer Mittelschule. Nebenbei hat "Ukraine-Kontakt" bereits sechs Bürgerreisen organisiert.
Jetzt soll die Verbindung auch auf der Verwaltungsebene enger werden. Darauf einigen sich die Verwaltungsspitzen beim gemeinsamen Gespräch in Kiew, zu dem auch der amtierende ukrainische Kulturminister Jewhen Nischtschuk gekommen ist. Bis April wollen beide Seiten Schwerpunkte der Zusammenarbeit ausloten. Auf ukrainischer Seite gibt es Interesse am Umgang mit Schwerbehinderten und am Gesundheitswesen. Vielleicht, sagt Verwaltungschef Bondarenko, ergebe sich auch etwas, "wobei wir unseren Freunden helfen können. Wir würden das sehr gerne tun".
So wie Frankfurt und Hannover nach der Wende in Leipzig beim Verwaltungsumbau Unterstützung gaben, so wollen es die Leipziger jetzt in Kiew tun, auch wenn die Stadt mit 2,8 Millionen Einwohnern mehr als fünfmal so groß ist wie Leipzig. "Wir haben keine Kredite, wir haben keine Finanzen, aber wir haben Know-how", sagt Jung. Der OBM kann sich vorstellen, Experten aus der Leipziger Verwaltung zu entsenden - für das Bauordnungswesen oder die Ver- und Entsorgung zum Beispiel. Das könnten auch Pensionäre mit Russisch-Kenntnissen sein. Ebenfalls in Planung: ein Kultur-Austausch, ein gemeinsames Konzert, vielleicht auf dem Maidan.
Für den 3. Oktober lädt Jung schon mal nach Leipzig ein, bevor er die letzten Programmpunkte der Zwei-Tages-Reise über die Bühne bringt. Er besucht das "Leipziger Zimmer" im Zentrum für Deutsche Kultur und schenkt der Katharinen-Gemeinde von Pfarrer Haska eine Grafik von Matthias Klemm zum Thema "Friedliche Revolution". Demnächst werden 10000 Euro aus einer Spendensammlung für die Kirchengemeinde überwiesen, die ein Lazarett für die Verwundeten des Maidan betreibt.
Als Burkhard Jung wieder im Flieger sitzt, ist die nächste Reise längst geplant: Ende April fliegt der Stadtchef nach Moskau. Die bestehende Kooperation zur russischen Hauptstadt soll um einen Fünf-Jahres-Vertrag erweitert werden. Ein Dilemma? Nicht unbedingt, findet Jung. "Wenn wir in Moskau einen Vertrag unterschreiben, berührt das nicht unsere freundschaftliche Basis zu Kiew."