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01.03.2016 11:48 Alter: 5 yrs

„Das Nazi-Problem wurde im Osten verheimlicht“

Der Bürgerrechtler Konrad Weiß kritisierte schon vor 1989 das Schweigen über faschistisches Denken in der DDR. Die neuen alten Rechten in Sachsen heute sind für ihn eine Folge.


Archiv-Foto: Martin Schutt/dpa

Der Filmemacher, Bürgerrechtler und ehemalige Bundestagsabgeordnete der Grünen, Konrad Weiß, hier bei der Verleihung des Point-Alpha-Preises 2009, hatte schon im Frühjahr 1989 auf ein Nazi-Problem in der DDR hingewiesen. Seine Analyse konnte nur im Untergrund erscheinen.

Wie rechtsradikal ist der Osten Deutschlands?Diese Frage stellte sich der Bürgerrechtler und Filmemacher Konrad Weiß schon vor der Wende. Seine Beitrag „Die neue alte Gefahr. Junge Faschisten in der DDR“, der im März 1989 in der Untergrund-Zeitschrift „Kontext“ erschien, war die erste öffentliche Analyse des Rechtsradikalismus im SED-Staat. Im Schweigen darüber sieht der 74-Jährige eine Ursache für aktuelle Übergriffe.

Herr Weiß, viele schauen gerade auf Sachsen, wo auf vier Millionen Einwohner überdurchschnittlich viele Fälle von rechter Gewalt kommen. Sie haben schon vor der Wende über Nazis in der DDR geschrieben – gibt es da einen Zusammenhang?

Das hat etwas mit der unaufgearbeiteten DDR-Vergangenheit zu tun. Es ging nach 1989 weiter wie vor 1989 – das Nazi-Problem im Osten wurde verheimlicht. Eine intensive Beschäftigung mit diesem Erbe fand nicht statt. Niemand musste sich wirklich mit der eigenen Verantwortung, mit der eigenen Schuld auseinandersetzen.

Inwiefern gilt das für die Demonstranten in Dresden und anderswo?

Bei den Pegida-Demonstrationen sehe ich vielfach schon am Alter der Teilnehmer, dass es sich im Wesentlichen um in der DDR sozialisierte Leute handelt. Die haben die Verdrängung zutiefst verinnerlicht und kommen nach wie vor nicht mit Demokratie, Offenheit und Freiheit zurecht. Sie sehnen sich nach den alten Mauern zurück, notfalls mit Gewalt.

Äußerungen zur Waffengewalt wie die von Frauke Petry, die auch aus der DDR kommt, kann man nur machen, wenn man verunsichert ist und weder Erfahrung mit der Demokratie hat noch welche machen will. Das ist ein Ausdruck von Angst, die ihre Wurzeln in der DDR hat.

Ihre Analyse „Die neue alte Gefahr. Junge Faschisten in der DDR“ konnte 1989 nur im Untergrund erscheinen. Was veranlasste Sie, in der DDR über Nazis zu schreiben?

Als Filmemacher in der DDR habe ich mich seit den 60er-Jahren intensiv mit Nationalsozialismus und den Folgen beschäftigt. Mit der ersten Gruppe von Aktion Sühnezeichen pilgerte ich 1965 nach Auschwitz. Dort begriff ich ganz persönlich, was es heißt, Deutscher zu sein.

Als dann Mitte der 1970er, Anfang der 1980er in der DDR erkennbar wurde, dass es wieder neo-nationalsozialistische Bestrebungen gab, dass alte Denkweisen wiederkehrten – ganz weg waren sie ja nie –, war es mir wichtig, nicht wegzusehen und nicht den Mund zu halten.

Nazis in der DDR passten nicht ins Bild vom antifaschistischen Vorzeigestaat. Sie waren Dokumentarfilmer – wieso konnten Sie das Thema nicht offiziell thematisieren?

Offiziell ging für jemanden, der nicht in der Partei war, wenig. Als Filmemacher musste ich zudem immer wieder die Erfahrung machen, dass es schwierig war, sich wirklich ehrlich mit der Zeit des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen – insbesondere in Bezug auf alles Jüdische. In der DDR gab es auch seitens der SED einen latenten Antisemitismus. Die waren nicht wirklich antifaschistisch und haben viel unter den Teppich gekehrt. Und das wucherte dann in den 80er-Jahren wie ein Geschwür, dass nicht aufgeschnitten und bekämpft wurde.

Sie dokumentierten viele Fälle von antisemitischen Grabschändungen, rechtsradikalen Gewaltausbrüchen, Sympathiebekundungen für Hitler und das Dritte Reich – woher hatten Sie das Material?

Ich hatte über die Jahre hinweg Nachrichten über Rechtsradikale gesammelt, auch wenn nur wenig veröffentlicht wurde. Im Berliner Presse-Café lagen damals auch alle Bezirkszeitungen aus, in denen vor allem auf den Lokalseiten öfter mal über Vorfälle berichtet wurde, die in der zentralen Parteipresse nicht vorkamen. Es gab immer wieder rassistische Vorfälle, Menschen dunkler Hautfarbe wurden drangsaliert, jüdische Friedhöfe geschändet und vieles mehr.

Außerdem bekam ich Hinweise von zwei kleinen Arbeitsgruppen aus dem Innenministerium und von der Humboldt-Universität zugespielt. Die analysierten zwar die Verhältnisse im Parteiauftrag, ihre Erkenntnisse blieben aber unter Verschluss. Dergleichen wollten die verwirrten Greise im Politbüro einfach nicht zur Kenntnis nehmen.

Rechtsradikalismus in der DDR kam von Innen

Welche Wirkung konnte Ihr Text damals haben?

Mein Text erschien nicht in einem offiziellen Medium. Ich hatte versucht, eine kürzere Fassung in der Berliner Wochenzeitung „Die Kirche“ zu veröffentlichen. Der wurde mir aber vom Leiter des Presseamtes beim Ministerrat, Kurt Blecha, selbst ein ehemaliges NSDAP-Mitglied, herausgeschnitten. Was bedeutete, dass die ganze Nummer nicht erscheinen konnte.

Gedruckt wurde er im Samisdat-Blatt „Kontext“ und in einer Auflage von 2000 Exemplaren verbreitet. So haben die Informationen in der DDR die Runde gemacht. Die Leute haben es abfotografiert oder mit der Schreibmaschine abgetippt. Ich habe nach der Wende bestimmt 10 verschiedene Kopien in die Hand bekommen. Der Text erschien zudem in Polen und über Polen auch im Westen, zum Beispiel in einer Beilage der „Zeit“ und in der „Jerusalem Post“.

Wie reagierten die SED?

Offizielle Reaktionen gab es keine. Meiner Stasiakte konnte ich aber später entnehmen, dass hinter den Kulissen die Mühlen ratterten. Ich bekam erst einmal keine Aufträge mehr, durfte aber per Dauervisum im Mai 1989 zum Evangelischen Kirchentag nach Westberlin. Da habe ich das Ganze als Vortrag gehalten.

Schon damals ging es um die Frage, woher der Rassismus und die rechte Gewalt eigentlich kamen. Die DDR schob es immer auf den Westen.

Das kam von innen und hatte mit dem Westen wenig zu tun. Die DDR verstand sich zwar als antifaschistischer Staat. Trotzdem – oder gerade deshalb – gab es Bereiche, in denen keine Auseinandersetzung stattfand. Selbst Menschen, die schuldig geworden waren, mussten oder konnten sich dem nicht stellen.

Was nicht wirklich geheilt und ausdiskutiert ist, schmort weiter – ob im einzelnen Menschen oder bei Gruppen. Und dann ist es eines Tages wieder da. Einer vor allem ehrlichen Auseinandersetzung standen alle Strukturen in der DDR entgegen. Das ist bis heute eine der Ursachen, warum Rechtspopulismus vor allem in Ostdeutschland auf fruchtbaren Boden fällt.

Rechte gab es zu dieser Zeit aber auch anderswo?

Das ist richtig. Es fing mit der Skinhead-Bewegung in England an und wurde dann immer stärker politisiert. Auch in der DDR gab es erst einmal Mode-Skinheads. Auf deren Welle schwammen dann auch andere mit, die sich selbst als „Faschos“ bezeichneten. Die bekannten sich dezidiert zu nationalsozialistischen Ideen. Sie lehnten die Demokratie – und übrigens auch den Kommunismus – ab und wollten ein wiedervereinigtes Großdeutschland.

Unter denen war ein überproportional großer Anteil an jungen Leuten, die aus Familien von hohen SED-Funktionären oder Stasi-Mitarbeitern kamen. Die wussten genau, wo sie ihren sich moralisch überlegen fühlenden Kommunisten-Vätern am leichtesten wehtun konnten.

Welche Rolle spielten nationalsozialistische Ideologien?

Das nahm stetig zu. Die Gruppen waren zudem stark militarisiert. Es gab zum Ende der DDR hin ungefähr 2000 im Untergrund organisierte Rechtsradikale, die zum Teil bewaffnet waren. Die Waffen hatten sie sich aus der CSSR oder aus Russland besorgt. Der Einfluss der westdeutschen Rechten spielte erst nach der friedlichen Revolution eine Rolle. Die versuchten dann natürlich, das Potenzial an Rechten für sich zu benutzen.

Und wie ist es heute: Legt Pegida den Menschen die Losungen in den Mund – oder tragen die Retter des Abendlandes lediglich zur Enthemmung bei, bisher zurückgehaltene Ressentiments herauszubrüllen?

Wir haben es mit einem Prozess der Enthemmung zu tun, der ja auch in den sozialen Medien gefördert wird, die in Wahrheit vielfach asoziale Medien sind. Vieles von dem, was jetzt ausgesprochen wird, war immer da und ist nicht neu. Bisher war da aber noch der Anstand, dass man so etwas nicht sagt. Diese soziale Kontrolle ist weg.

Die Stärke von Pegida und AfD besteht darin, dass sie Menschen einen Raum geben, die nicht nachdenken. Würden sie nachdenken, könnten sie niemals dafür sein, dass es wieder zu Erschießungen von Menschen an der Mauer oder wieder zu Verhältnissen wie in der DDR oder im Dritten Reich kommt.

Wieso die Sachsen?

Ich habe die Sachsen eigentlich auch immer für neugierig, an fremden Menschen interessiert erlebt. Andererseits weiß ich, dass Sachsen – und übrigens auch Thüringer – in der Zeit des Nationalsozialismus besonders treue Mitläufer und führertreu waren. Diese Treue hat sich in der DDR gegenüber der SED vielfach fortgesetzt.

Es ist in meinen Augen geradezu absurd, wenn diese Menschen, die vom christlichen Abendland nichts wissen und seine Werte und Tugenden wie Aufgeschlossenheit gegenüber Fremden leugnen, sich nun zu dessen Verteidigung aufschwingen. Und natürlich stört mich der Missbrauch des Rufens „Wir sind das Volk“. Das war in der friedlichen Revolution ein Ausdruck von Freiheit und Mündigkeit und ist jetzt pervertiert zu Engstirnigkeit und Dummheit.

Hätte all das die Kanzlerin, die auch eine Ostdeutsche ist, wissen müssen, als sie sagte „Wir schaffen das“?

Sie hat das getan, was abendländische Tugend ist – nämlich Menschen in Not einzuladen.

Ausländerfeindlichkeit gibt es nicht erst seit Pegida. Hat sie es ausgeblendet, als sie von Willkommenskultur sprach?

Ich bin selber Flüchtling aus Schlesien und kann mich gut an die Erfahrung des Fremd- und Nichtgewollt-Seins erinnern. Ich habe also eine gewisse Sensibilität. Ungeachtet der Widerstände wurde es damals geschafft. Die Menschen, die das erlebt haben, leben noch. Da sollte man offen sein für Flüchtlinge in der Gegenwart.

Scham und schöne Worte allein reichen nicht

Anfang der 1990er haben sie angesichts rechtsradikaler Gewalttaten gegen Ausländer in einer Rede gesagt „Ich schäme mich“. Wurde seitdem genug gegen Rechte im Osten getan?

Ich wünsche mir schon lange ein konsequentes Verbotsverfahren gegen die NPD, das dann auch mit einem Verbot endet. Es würde den Rechten die Legitimität wegnehmen. Inzwischen haben wir die AfD, die geschickter vorgeht. Die bieten formal keine Ansatzpunkte für ein Verbot.

Aber ich würde mir auch ein viel strikteres Vorgehen von Polizei und Justiz wünschen. Wenn Politiker am Galgen herumgeführt werden oder zum offenen Politikermord aufgerufen wird, muss das schnell strafrechtliche Folgen haben. No-go-Gegenden für Flüchtlinge darf es in Deutschland nicht geben. Die Feinde der Demokratie kann man nicht mit schönen Worten oder mit Scham bekämpfen.

„Ich schäme mich“ reicht Ihnen heute nicht mehr?

Ich bin heute kein anderer, aber die gesellschaftliche Situation ist eine andere. Unsere Demokratie, unsere Bürgerlichkeit ist stärker geworden. Dafür muss man täglich kämpfen. Und man muss die ächten, die unsere Werte infrage stellen. Ich halte nichts davon, mit jemandem zu diskutieren, der unsere Gesellschaft am liebsten am Galgen sehen würde.