Totgesagte leben länger – 50 Jahre Bausoldaten
Fünf Tage nach dem Abgesang auf den Pazifismus in der FAZ trafen sich am Wochenende in Wittenberg 300 Teilnehmende zum Bausoldatenkongress 2014 „Friedenszeugnis ohne Gew(a)ehr“. Anlass war der 50. Jahrestag der Bausoldatenanordnung in der DDR, auf deren Grundlage ab 1964 etwa 14.000 Wehrpflichtige den Waffendienst in der NVA verweigerten. Der waffenlose Dienst in den Baueinheiten war immer auch Ausdruck einer pazifistischen Haltung, auch wenn die politischen, religiösen und ethischen Hintergründe der Bausoldaten heterogen waren.
„Wir ahnten vor zwei Jahren, als die Vorbereitungen des Kongresses begannen, nicht, dass wir so dicht an tagespolitischen Fragen sein würden“, zeigte sich Stephan Schack als Projektleiter des Kongresses überrascht.
Friedrich Kramer, Direktor der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt ergänzt: „Selbst in den Arbeitsgruppen, die sich Aspekten der Geschichte der Bausoldaten widmeten, fokussierten sich die Diskussionen zwischen den eingeladenen Expert_innen und den Teilnehmenden sehr schnell auf die gegenwärtigen friedenspolitischen Herausforderungen.“
Mit dem „Ruf aus Wittenberg“ wenden sich Teilnehmende des Kongresses an Bundestag und -regierung mit der Forderung, sich international stärker für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung einzusetzen. An die Kirchen gerichtet heißt es in dem Text, sich stärker an die geistigen Wurzeln dieses Rechtes in den Propheten und der Bergpredigt zu erinnern.
„Insgesamt erhoffen wir uns davon auch neue Impulse für die gesellschaftliche Debatte zur Abkehr von einem am Sicherheitsdenken orientierten Reagieren, hin zu einem verantwortungsbewussten, gewaltfreien Agieren im Sinne der Friedenslogik“, fasst Kramer den „Ruf“ zusammen. Unterzeichner_innen sind u.a. die Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland Ilse Junkermann, der Wittenberger Propst Siegfried Kasparick, die Menschen- und Bürgerrechtler Heiko Lietz, Martin Böttger und Reinhard Schult und viele aktiv an der Friedlichen Revolution 1989 beteiligte Persönlichkeiten.
Sehr eindrücklich hat eine Gruppe Jugendlicher an die anwesenden Bausoldaten appelliert: „Seien sie uns Vorbilder und ermutigen sie uns zu provozieren, kontrovers zu diskutieren und nicht alles ohne Nachfragen hinzunehmen. Schaffen sie ein Gleichgewicht zu Bundeswehroffizieren in Schulen, die jährlich junge Menschen für den Dienst anwerben wollen. Wo sind die, die für Waffenlosigkeit und Frieden werben?“
Das Programm umfasste drei Themenzentren mit 25 Arbeitsgruppen: „Friedenszeugnis ohne Gewehr – Bausoldaten 1964-1990“, „Friedenszeugnis kontrovers – Was dient dem Frieden heute?“ und „Friedenszeugnis ohne Gewähr? Von der konstantinischen Wende zur Friedlichen Revolution“.
Die Themenzentren wurden mit Vorträgen von Dr. Thomas Widera vom Hannah-Arendt Institut Dresden, dem Friedensbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland, Renke Brahms, und dem Wittenberger Theologen und Publizisten Friedrich Schorlemmer eingeleitet und später in thematischen Workshops vertieft. Mehr als 150 ehemalige Bausoldaten diskutierten mit Fachleuten aus Wissenschaft, Politik und Vertreter_innen von NGOs. Auf besonderes Interesse stießen am Samstagnachmittag Angebote im „Offenen Kongress“, einem für Tagungen und Konferenzen bisher unbekannten Format:
Zehn Cafés, Restaurants und Kneipen der Lutherstadt haben sich daran beteiligt und ihre Räumlichkeiten für Lesungen, Musik, Erzählcafés und Gesprächsrunden geöffnet.
Großen Zuspruch fanden eine Diskussion mit Menschenrechtlern aus Russland und der Ukraine sowie die Lesung von Berndt Püschel aus Neinstedt. Er wurde musikalisch begleitet von Helmut „Joe“ Sachse, einem der bekanntesten deutschen Jazzgitarristen. Beide hatten sich während ihrer Dienstzeit als Bausoldat in den 1970er Jahren kennengelernt. Der SPIEGEL-Redakteur Stefan Berg las aus „Landgang – Zwischen Aufbruch und Kaserne“, seinem gemeinsam mit Günter de Bruyn veröffentlichen Briefwechsel aus der Zeit als Bausoldat in Saßnitz zwischen 1982 und 1984.
Der Bausoldatenkongress wurde ermöglicht, vor allem durch die finanzielle Unterstützung der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Bundeszentrale für politische Bildung. Er ist eine Veranstaltung des Netzwerkprojektes der Evangelischen Akademien in Deutschland „Die gesellschaftliche Aktualität der Reformation“, welches mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb zum Reformationsjubiläum 2017 durchgeführt wird.
Kooperations- und Finanzierungspartner waren die Landeszentralen für politische Bildung Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern sowie die Heinrich Böll Stiftung Sachsen-Anhalt. Weitere Förderer waren die Thüringer sowie die Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung, die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, der Freundeskreis der Evangelischen Akademie Thüringen und die Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Weitere Kooperationspartner waren die Robert-Havemann-Gesellschaft Berlin, unterstützt durch den Berliner Landesbeauftragten für Stasiunterlagen, das Thüringer Archiv für Zeitgeschichte in Jena, der Friedenskreis Halle, der Förderkreis Bausoldaten Prora, die Evangelische StudentInnengemeinde in der Bundesrepublik Deutschland, der Verein für Kirchengeschichte der Kirchenprovinz Sachsen e.V. sowie die Kammer für Kirchengeschichte der Evangelischen Landeskirche Anhalts.
Lutherstadt Wittenberg, 8. September 2014
Friedrich Kramer
Direktor der Ev. Akademie Sachsen-Anhalt e.V.
Schlossplatz 1d
06886 Lutherstadt Wittenberg